In Westberlin, wohin er schon vor dem Mauerbau übersiedelte, wurde Georg Baselitz zum zweiten Mal geboren. Der Künstler, der damals eine steile und bis heute stratosphärische Malerkarriere vor sich hatte, soll einmal gesagt haben, die DDR habe ihn abgestoßen wie eine kranke Zelle.
Er selbst streift 1961 seinen alten Namen ab. Als Hans-Georg Kern kommt er am 23. Januar 1938 im sächsischen Deutschbaselitz (heute Ortsteil von Kamenz in der Oberlausitz) zur Welt, was die spätere Namenswahl erklärt. Ausgerechnet im Dorfschulhaus wurde der Sohn eines Lehrers geboren, er, der mit "Schule" und "Lehre" dann auf Kriegsfuß stand, durchs Abitur segelte und später nach nur zwei Semestern an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee exmatrikuliert wurde – wegen "gesellschaftspolitischer Unreife", wie es in DDR-Pädagogensprech hieß.
Baselitz setzte 1957 sein Studium an der Westberliner Hochschule der bildenden Künste zwar erfolgreich fort, war dort in den 1980ern und 1990ern (und zuvor in Karlsruhe) auch Kunstprofessor – aber auch der Institution Kunstschule galt seine Skepsis, denn: "Es gibt für Bilder keine Regeln. Es gibt höchstens Akademien, wo gelehrt wird, wie man Talent ausbeutet", wie Baselitz 1990 in einem Interview erklärte.
Gedichte, die das Leben beschreiben
"Dich will ich loben: Häßliches, / Du hast so etwas Verläßliches." Diese Gedichtzeilen von Robert Gernhardt könnten Baselitz’ Lebensmotto sein. Dem kleinen Hans-Georg zeigt der Vater das Kalenderblatt von Rembrandts "Bathseba im Bade" und spricht von einem "großartigen Bild". "Ich habe gedacht, mein Vater hat einen Knall", erzählte der Künstler, "diese Frau mit ihren Hautwülsten und rissigen Poren ist doch irrsinnig hässlich. Was ich damals nicht begriff: Mein Vater hat das Bild gemeint und nicht die Frau."
Die Figuration hat Baselitz nie aufgegeben, auch wenn er "der Figur", dem Gegenständlichen, in seinen Gemälden und druckgrafischen Werken immer wieder brutal zu Leibe gerückt ist. Seine Kunst ist geprägt von nervöser Pinselschrift und bildnerischer Brüchigkeit, vom Fragmentieren menschlicher Körper und des Bildes selbst. Bereits in den 1960ern stemmt er sich – wie auch Sigmar Polke oder Gerhard Richter – gegen die Tendenz der damaligen Avantgarde zum Abstrakten (was man von Baselitz’ Abstraktion unbedingt unterscheiden muss), und er kann auch mit Fotokunst oder Happening wenig anfangen.
Eine Schaffenskrise um 1969 – "In dieser Zeit war ich sehr erschöpft und konnte nichts mehr aus dem Bauch, aus dem Herzen und aus dem Kopf machen" – führt zu der folgenreichen Entscheidung, die Motive auf den Kopf zu stellen. Das erste Bild dieser Art trägt sogar einen programmatischen Titel: "Der Wald auf dem Kopf" (1969). Mit der 180-Grad-Drehung erfindet Baselitz ein sinnfreies, das ihn von anderen Malereischaffenden unterscheidet, ein Markenzeichen, das niemand zu kopieren wagt, der sich nicht lächerlich machen will. "Die Regel dafür ist künstlich, aber ebensowenig falsch wie die konventionellen Regeln", sagte Baselitz, "Denn kein Bild, kein Stück Papier auf dem Tisch hat von sich aus eine natürliche Himmelsrichtung oder ein Oben, Unten, Rechts oder Links. Das ist nur eine verabredete Form, eine Konvention. Und ich bin dahintergekommen, dass man durchaus Bilder machen kann, wenn man diese Verabredung widerspricht und die Motive rumdreht."
Skandale, Staatsanwaltschaft und prächtiges Presseecho
Ein Bild einfach nur so auf den Kopf zu stellen ist absurd. Und gerade deshalb ein legendärer, freiheitlicher Akt der Kunst, des "interesselosen Wohlgefallens" (Kant) im ästhetischen Raum. Den zahlreichen Spott über seine Maßnahme konnte Baselitz gut aushalten. Wie er auch die Skandale, die Werke und Ausstellungen von ihm hervorriefen, nicht nur gut wegsteckte, sondern häufig gezielt provoziert hatte, in frühen Jahren gerne mit Phalli oder Masturbationsszenen. 1963 führten die Gemälde "Die große Nacht im Eimer" und "Der nackte Mann" auf Baselitz’ erster Soloschau in der Berliner Galerie Werner & Katz zum Eklat, zu einer Beschlagnahme durch die Staatsanwaltschaft und zu prächtigem Pressecho.
Baselitz blieb ein gefeierter Künstler und übrigens auch Schöpfer von mit der Motorsäge geschnittenen Holzskulpturen, wurde zum Hansdampf in allen wichtigen Kunstsammlungen, er stellte auf der Documenta (5 und 7) und der Venedig-Biennale aus. 2021/22 räumte ihm das Pariser Centre Pompidou eine große Retrospektive ein. Ungefähr nach dem Mauerfall galt das kritische Echo aber weniger angeblich skandalösen Bildinhalten – und vermehrt einigen Äußerungen des Künstlers. "Frauen malen nicht so gut. Das ist ein Fakt", mit dieser in einem "Spiegel"-Interview geäußerten These brüskierte der Künstler nicht wenige ihm bislang treue Verehrerinnen und Verehrer.
Zwischen Mitte der 1970er bis etwa 2005 hatte Baselitz seinen Lebensmittelpunkt im denkmalgeschützten Schloss Derneburg bei Hildesheim, das ihm gehörte und das er an den US-Finanzinvestor und Sammler Andrew J. Hall verkaufte. Danach zog er nach Oberbayern, seit 2013 lebt er hauptsächlich in Salzburg. Seit 60 Jahren ist Baselitz mit Johanna Elke Kern verheiratet, ihre Söhne Daniel Blau und Anton Kern sind heute renommierte Galeristen.
Ein Freund der Provokation
Dass Betrachterinnen und Betrachter mitunter düpiert vor seinen Bildern stehen, ist für Georg Baselitz nie ein Problem gewesen. Das Vor-den-Kopf-stoßen, sogar der Schock, ist für den Künstler vielmehr zentraler Teil der Kunstpraxis und -betrachtung. Zum Problem des Nichtverstehens sagte Baselitz vor 30 Jahren: "Mir geht es doch mit der Musik ebenso. Aber wenn ich die nicht verstehe, kann ich doch auch nicht beim Komponisten anklopfen und verlangen: Bitte schreib’ verständlich. Neue Kunst enthält immer einen Schock."
Am 23. Januar wird der malende Bürgerschreck 85 Jahre alt. Statt an ihm Anstoß zu nehmen, ist es Zeit, auf ihn anzustoßen: Prosit, Provokateur!