Größer könnte der Kontrast kaum sein. Auch deshalb beschämt die Aussicht ein wenig: Lnks und rechts des Galerieraumes reihen sich ein angeketteter Schäferhund, rostiges Gerät vor kaltem Asphalt und junge Männer mit kurzrasierten Haaren in einem Kellerloch aneinander. Abgebildet hat sie der Künstler Karol Palczak auf kleinformatigen Ölgemälden. Mittig indes gibt eine breite Glasfront den Blick frei auf sanierte Neu- und Altbauten, denn im mondänen Bezirk Śródmieści (übersetzt: Stadtmitte) befindet sich nicht bloß die Stiftung Galerie Foksal, sondern zudem ein Nobelwohnviertel, Geschäfte von Luxusmarken, viele der Theater der polnischen Hauptstadt und die meisten der Ministerien Warschaus.
"Dunst" ("ŚREŻOGA") heißt die Schau, in der Galerie Foksal "Stillleben" und tonloses Bewegtbild eines international eher Unbekannten darbietet. Das könnte sich bald ändern, Karol Palczaks Werke, emotional bis zum Anschlag aufgeladen, zeugen von schreiender Ungerechtigkeit.
In seiner zwölften Ausgabe setzt das diesjährige Warschauer Gallery Weekend, an dem insgesamt 33 Galerien mit 38 Ausstellungen teilnehmen, einen Schwerpunkt auf Videokunst. So erklimmen im zweiten Stock der Galerie Foksal die Jungen in Jeans, die Oberkörper nackt, nach mehreren Stürzen und umhüllt von weißen Rauchschwaden den Wipfel eines Baumes. Aufgenommen wurde das Filmmaterial nahe des Dorfes Krzywcza im Powiat Przemyski der Woiwodschaft Karpatenvorland. Eine Ortschaft, die jeder verlässt, der dies kann, und in der Palczak, Jahrgang 1987, seine frühe Kindheit verbrachte. Im äußersten Südosten Polens, am Fluss San und an der ukrainischen Grenze gelegen ist die Stadt Przemyśl seit der russischen Invasion als erste Anlaufstelle für Flüchtende aus dem Kriegsgebiet. Nach seinem Abschluss an der Kunstakademie in Krakau zog es Palczak zurück in sein Heimatdorf.
Neben dem Video rückt Weiteres in den Fokus, nämlich das Wahrzeichen Warschaus exakt in die Sichtachse der meterhohen Glasfront. Lange war der 1955 eingeweihte und im Stil des Sozialistischen Klassizismus errichtete Kulturpalast, ein Geschenk Stalins, den Einwohnern Warschaus verhasst. Im Gegenentwurf dazu – schon in den 1950ern wandte sich Polen der Moderne zu – entstand das Gebäude nach Plänen Leszek Klajnerts, in dem heute die Galerie Foksal residiert und dem später das Schweizer Büro Diener und Diener Architekten ein neues Antlitz verlieh.
Die Gentrifizierung frisst ihre eigenen Kinder
Längst ist der Kulturpalast eine beliebte Touristenattraktion, zusammen mit dem Libeskind-Hochhaus daneben bildet er das neue Zentrum der polnischen Kapitale, die wegen der Deutschen im Herbst 1944 bis zu vier Fünfteln niederbrannte – die berühmte "Altstadt" musste rekonstruiert werden. Nicht bloß in Tagen, da Außenministerin Annalena Baerbock in Warschau Reparationsforderungen zurückweist, lässt sich den Schäden schwerlich aus dem Wege gehen, die Deutsche hier anrichteten.
Was den Augen hingegen bis auf wenige Schritte vom Zentralbahnhof entfernt verborgen bleibt, ist die nicht einmal von den vielen Dachterrassen der Galerien zu sehende enorme Baustelle, die an der Flanke des Kulturplastes klafft. Bis 2023 soll hier der Neubau des Museums für Moderne Kunst auf vier Etagen im Karree mit dem neuen Teatr Rozmaitości zwischen dem Świętokrzyski-Park und der Verkehrsader Ulica Marszałkowska hochgezogen werden. Bis zur Coronakrise schien Warschaus Bauboom schier grenzenlos, dessen Skyline mit der Manhattans verglichen wurde, nicht bloß nach dem Krieg und der Wende, sondern stetig wollte sich die Megametropole neu erfinden. Das hat auch seine Kehrseiten.
Trotz der einbrechenden Dämmerung zeichnet sich der Mann in Warnweste und mit dem orangefarbenen Helm deutlich als Gestalt im Innenhof durch das Fenster im hochherrschaftlichen Treppenhaus ab. Ob sie in dem Gebäude bleiben könnten, das im Original einst der Architekt Józef Pius Dziekoński erbaute, sei derzeit ungewiss, erzählt die Galeristin Sonia Jakimczyk der Galerie Import Export. Wie in vielen anderen Großstädten hat in Warschau die Gentrifizierung Einzug gehalten.
Im Galerieraum setzt sich der Baunzaun fort, an dem Fotografien befestigt wurden. Zu sehen sind Häuser, umgeben von Stahlgerüsten, Holzverschlägen oder Metallblechen. Aufgenommen hat sie die 1986 im polnischen Międzyrzecz geborene und in Berlin lebenden Künstlerin Zuzanna Czebatul in Großstädten wie Warschau, New York oder Genf. Immobilienspekulationen sind ein globales Problem, das versinnbildlicht ebenso das Video, in dem abgelichtete Verkaufsschilder im Loop laufen. Zudem warten Marcus, George und David, kugelige, gesichtslose Makler, großformatige Skulpturen, in der Ausstellung "Baustelle" auf Kundschaft.
Beim Betreten der Galerie Piktogram kitzelt sogleich frisch gestrichene Wandfarbe in der Nase. Erst kürzlich hat sie das neue Etablissement in Parterre und in einem schmucken Bogengang bezogen. "Eine Verbesserung zur vorherigen Adresse und ein überlegter Schritt", resümiert der Galeriemitarbeiter Ant Lakomsk. Vom Schicksal der ständigen Umzüge sei man im Gegensatz zu vielen anderen bislang verschont geblieben.
In einem abgetrennten Bereich flimmert der Film eines ausländischen Künstlers über die Leinwand, eine Ausnahme. Im poetisch-aberwitzigen Stück "Untitled (Vampire)" agiert der 1979 in Hannover aufgewachsene, in Berlin arbeitende Peter Wächtler selbst in der Hauptrolle als hundsgemeiner, narzisstischer Untoter, der einen Mönch begehrt, schließlich küsst und mit der eigenen Unsterblichkeit hadert.
Derweil ähneln die gemalten Männer im Hauptraum mit ihren Melonenhüten, im Grün der Dollarnoten eingefärbt, dem brutalen Schlägertrupp aus Kubricks "Uhrwerk Orange". Inspirieren ließ sich Jan Eustachy Wolski für "Far Rainbow" allerdings von Rainer Werner Fassbinders schwarzen Komödie "Die dritte Generation" und dem Kurzroman "Der ferne Regenbogen", in dem der Planet auf seine Vernichtung zusteuert und den die Strugazki-Brüder, die heute zu den bekanntesten osteuropäischen Science-Fiction-Autoren zählen, 1963 veröffentlichten.
Eine gewalttätige Dystopie, wie sie das weltweit populäre Videogame "Warhammer" propagiert, wird im temporären Ausstellungsraum der Galerie Krupa in ein Universum kuscheliger, von heteronormativen Zuschreibungen befreiter Monster verkehrt. Zwei Miniatur-Armeen, zu denen fantasievolle Geschöpfe gehören, die sich zwischen Gummibärchen, Orientteppichen und auf einem Podest tummeln und ausdrücklich bewegt werden dürfen. Erschaffen haben sie die Künstler Jan Możdżyński and Sebulec, die mit "Age of Lovehammer" ein neues Zeitalter einläuten.
Zwar zentriere sich vieles nach wie vor in Warschau, so der Kurator Antoni Burzyński, doch Breslau, wo die Galerie eigentlich ihren Sitz hat, etabliere sich als Dreh- und Angelpunkt für digitale Kunst.
Die Galerienszene Warschaus habe sich deutlich professionalisiert, erklärt Joanna Witek-Lipka, die Leiterin des diesjährigen Gallery Weekends. Auch halte die gute Stimmung als Trend auf dem polnischen Markt für zeitgenössische Kunst tendenziell an. Gleichwohl gerieten öffentliche Institutionen vermehrt unter regierungsgeführtes Management. Für freie Orte des künstlerischen Schaffens zu sorgen, sehe sie auch als Aufgabe der Galerien an.
Nicht um sich sei sie besorgt, aber um ihre Künstlerfreunde im Heimatland, erzählt die gebürtige Polin Renata Rara Kaminska, deren Soloschau "The Rag" – "Der Wischlappen" – sich an einem außergewöhnlichen Ausstellungsort zeitgleich zum Gallery Weekend und darüber hinaus erkunden lässt. Vom Residenzprogramm der Start Foundation mit Sitz in Amsterdam wurde Kaminska eingeladen das Warschauer Studio der gemeinnützigen Stiftung im unwirtlichen, sich rasant wie radikal wandelnden Hochhaus-Büroviertel Wola zu bespielen. Linksseitig der Weichsel und unweit des neomodernen Varso Towers, dem höchsten Gebäude der Europäischen Union, versteckt es sich in einem Trackt aus den 1950ern, in dem heute ein Hostel empfängt, in dem zuvor allerdings der polnische Radiosender UNITRA Marcin Kasprzak eine Station betrieb.
Im ehemaligen Konferenzsaal des Senders, hell und luftig, verteilen sich mehrere skulpturale Installationen, anhand derer eher das Subjektive als Objektive medialer Berichterstattung im internationalen Pressespiegel abzulesen ist. Über Dekaden und Ländergrenzen hinweg sammelt, liest und zerpflückt Kaminska, die mehrere Sprachen beherrscht, Zeitungen, die ihr als Grundmaterial dienen. Ob Brexit, die Rolle der Frau oder Aufmarsch der Rechten, wie sich aus ein und demselben Thema diverse Wahrheiten zu Narrativen verdichten, lässt sich beispielweise nach näherer Inspizierung am wild beklebten Paravent entschlüsseln.
Das älteste Massenmedium fungiere noch immer als zuverlässigster Lackmustest hinsichtlich der demokratischen Tauglichkeit eines Landes, konstatiert Kaminska. Zeitungen seien wie die "Lunge einer Gesellschaft", ein Prototyp des öffentlich-autonomen Raumes und in einem Land wie Polen, in dem Meinungen nicht frei seien, sei die Freiheit grundsätzlich in Gefahr. Ebenso fatal: ein eingeschränkter Zugang zu Informationen. Mit ihrer "gemütlichen" Sitzecke "Kącik czytelniczy Empik – reading corner" (2022), gefertigt aus 50 Kilogramm Beton, erinnert die politisch aktive Künstlerin daran, wie die polnische Staatssicherheit an öffentlichen Orten einst mitlas.
Im Rückgriff auf vergangene Archive analysiert Kaminska, die dabei die künstlerisch-experimentelle Praxis eines Tadeusz Kantor oder Gustav Metzger fortschreibt, Zukünftiges. Es sei ihr nicht egal, in Polen als Nestbeschmutzerin beschimpft zu werden, auch wolle sie nicht schwarzmalen, vor allem aber werde sie nicht schweigen. Schon einmal habe die nationalkonservative Regierungspartei PiS versucht, die Einschränkung künstlerischer Freiheit gesetzlich zu verankern. 2021 etwa wurde ein umstrittenes Mediengesetzt verabschiedet. Im Mai diesen Jahres nun sei in einer Nacht-und-Nebelaktion erneut ein Blasphemie-Gesetz im polnischen Parlament beschlossen wurden, das so ziemlich jeden wegen einer Verletzung religiöser Gefühle hinter Gitter bringen könnte, so Renata Kaminska. Allein in diesem Raum fände sich wohl ausreichend Anstößiges. Gerade jetzt sei folglich das Engagement ausländischer und unabhängiger Kunstförderer wichtig.
Obschon in einem Hinterhof gelegen, eingekeilt zwischen zwei Plattenbauten, ist das Amondo nicht zu verfehlen, ein auf dem Flachdach angebrachter Neon-Pfeil, ein irgendwie hoffnungsfroher Bote, verweist auf das "Kino" in knallroten Versalien darunter. Fast nirgendwo sonst zeigt sich das Programm des Warschauer Gallery Weekends in seinem zwölften Jahr so offen regierungskritisch und explizit politisch wie hier. Im Amondo kumuliert, was sich sonst über die Stadt verteilt eher verhaltener andeutete. Zum einen liegt das an der vorgeführten, handverlesenen Auswahl an Filmkunst, kuratiert von der Kunsthistorikerin Fanny Hauser.
Ausgesucht wurde etwa "The New Sun", eine Arbeit, die Agnieszka Polska 2017 für ihre Videoinstallation im Berliner Hamburger Bahnhof produzierte. Damals gewann die 1983 in Lubin geborene Künstlerin und ehemalige Studentin von Hito Steyerl mit der animierten Sonne, zusammengesetzt aus Found Footage, die anrührend schmerzlich über drängende Fragen unserer Zeit philosophiert, den Preis der Nationalgalerie. Zum anderen ergeben sich Gespräche mit Erkenntnisgewinn, etwa der, dass Bilder von genussvoll an Bananen, Würstchen oder Eiscreme Lutschenden in Polen noch nicht als "alte Kamellen" gelten.
2019 verbreiteten sich unter dem Hashtag "bananagate" Bilder von Menschen, die demonstrativ in Warschau Bananen aßen. Damals wehrte sich die polnische Kunstszene erfolgreich gegen die Entfernung mehrerer feministischer Werke aus der Abteilung für Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts im Nationalmuseum Warschau, die der neu berufene Direktor als "schädlich" für Jugendliche eingestuft hatte. Darunter befand sich etwa "The Appearance of Lou Salomé" von Katarzyna Kozyra oder auch "Consumer Art", eine Serie der 1937 in Żywiec geborenen und in diesem Jahr verstorbenen Grande Dame der zeitgenössischen Kunst Polens: Natalia LL. In den Filmen und auf den Bildern, entstanden zwischen 1972 und 1975, konsumierten junge Darstellerinnen solches, woran es im damals kommunistischen Block haperte, Salzstangen, Bockwürste oder eben Bananen.
Hommage an kürzlich verstorbene Natalia LL
Karol Radziszewskis Film beginnt mit einer der berüchtigten "Bananen-Sequenzen", aus dem Off im O-Ton ist derweil die Stimme Natalia LLs in Raum Eins des Amondo zu hören: "Sicher, dünner könnte die Trennlinie zwischen Pornografie und Kunst nicht sein. Doch selbst, wenn ich den Akt, vollzogen zwischen Mann und Frau oder zwischen zwei Männern fotografiere, ist das Kunst."
In "America is not ready for this" (2012), eine investigative Suche und im weitesten Sinne filmisches Archiv, stellt Radziszewski die subversiven Werkzyklen der Natalia LL ins Zentrum, um die Narrative einer polnischen und westlichen Kunstgeschichtsschreibung zu hinterfragen. 1977 lebte die Konzeptualistin, Fotografin und Performerin in New York. 34 Jahre später macht sich Radziszewski auf, die Kunstschaffenden, Sammler und Galeristen, mit denen Natalia LL in jenen Jahren zusammentraf, dort zu besuchen, einen Gesprächsfaden fortzuspinnen.
Er konfrontiert Größen wie Carolee Schneemann, Marina Abramović, AA Bronson, den Galeristen Antonio Homem oder den Kritiker Douglas Crimp mit feministischen, queeren- oder gender-theoretischen Fragenstellungen, diskutiert wird zudem über Kunst in Zeiten des Eisernen Vorhangs, ein Ost-West-Gefälle oder die Mechanismen eines Kunstmarktes. Entstanden ist eine anregend vielstimmige Dokumentar-Collage, in der zuvorderst Natalia LL, stets mit getönter Sonnenbrille und die weißblonden Haare mit einem Stirnband aus dem Gesicht gehalten, einen letzten großen Auftritt hat und zu Wort kommt.
Konsequent endet der Film: Radziszewski und seine Protagonistin vertilgen gemeinsam eine Banane.