Zuletzt schien es, als sei Madonna etwas angezählt. Und zwar nicht nur weil ihre aktuelle Inkarnation "Madame X", mit der sie passend zum gerade erschienenen gleichnamigen Album zur Zeit in die Öffentlichkeit tritt, eine Augenklappe trägt. Bei ihrem Auftritt beim Eurovision Song Contest wusste man gar nicht, ob man mehr Angst vor ihrem nächsten Schritt oder ihrem nächsten Ton haben sollte, denn es wackelte in alle Richtungen. In ihrem Video zu der seltsam musicalhaften Albumauskopplung "Dark Ballet" überraschte sie dann mit dem afroamerikanischen transsexuellen Rapper Mykki Blanco, der in der Rolle einer von brutalen Inquisitoren gequälten Jeanne D’Arc zu Madonnas Gesang die Lippen bewegte – was vor allem zeigte, wie viel sich eigentlich geändert hat, seitdem Madonna, letzter Mainstream-Star des Pop, vor dreieinhalb Jahrzehnten die Bühne betrat.
Ihre Karriere hatte in New Yorks queerer Discoszene der 80er begonnen. Und als sie 1990 ihren Hit "Vogue" veröffentlichte, verstanden das manche einfach nur als Popsong, andere ganz richtig als Hommage an die schwule Ballroom-Kultur. Von Shitstorms wegen cultural appropriation und Ausbeutung von Subkulturen für Mainstream-Kommerz hatte damals noch keiner gehört. Nun, fast zwei Jahrzehnte später, wundert man sich schon etwas, dass ein so betont rebellischer queerer Künstler wie Mykki Blanco plötzlich mit der Stimme eines heterosexuellen weißen Superstars spricht. Ob seine notorisch reizbare Fanbase das nachvollziehen kann? Oder werden identitätspolitisch engagierte Menschen den Eindruck gewinnen, dass Madonna sich hier an einen Kampf dranhängt, der nicht ihrer ist?
Plädoyer mit Trigger-Warnung
Das neue Video "God Control" kommt dagegen gleich mit Trigger-Warnung daher: wegen Brutalität. Es zeigt Madonna in einer Doppelrolle. Einmal ist sie eine seriös gekleidete, dunkelhaarige Schriftstellerin am Schreibtisch, die unter den Augen ihrer Heldinnen Simone de Beauvoir, Angela Davis und, prominent in der Mitte, Frida Kahlo ein wütendes Pamphlet zu schreiben versucht. Auf einer Schreibmaschine, denn so kann sie viel theatralischer Seite um Seite frustriert in den Abfalleimer werfen. Ihre zweite Inkarnation ist so etwas wie ein früheres Selbst, ein glamouröses Partygirl mit vielen queeren Freunden auf den Weg in den Nachtclub. Das erst ausgeraubt wird und später von einem Amokläufer mit einem Maschinengewehr erschossen.
Das Video bezieht sich auf das Massaker im Nachtclub Pulse in Orlando, Florida, bei dem 49 Menschen von einem Angreifer getötet und über 50 weitere verletzt wurden. Das Video ist ein eindringlicher Aufruf für gun control, Szenen von Demonstrationen für schärfere Waffengesetze sind dazwischen geschnitten, am Ende steht ein klarer Aufruf, sich gegen Waffen zu engagieren.
Entscheidend ist die Solidarität
Man könnte sich nun leicht darüber mokieren, dass das Gemetzel viel zu dekorativ aussieht und noch die Toten schön wie auf dem Laufsteg. Oder dass, wie schon bei dem Flirt mit Mykki Blanco, Madonna sich für ihre Eigenpromotion an die queere Szene heranwanzt. Man kann auch darüber lächeln, wie sie sich mit Hilfe feministischer role models in die Rolle der Intellektuellen hineinimaginiert. Aber eigentlich sollten wir Madonna dankbar sein. Denn die alte Mainstream-Tante erinnert uns an den zentralen Wert, den Subkulturen von Disco bis Ballroom lehren: Entscheidend ist die Solidarität. Sich für andere zu engagieren, die nicht so sind wie man selbst, mit ihnen feiern zu wollen, für sie kämpfen zu wollen, war damals eine gute Idee, als Madonna in New Yorks queerer Disco-Szene ihre Karriere startete, und es ist heute noch eine gute Idee, wenn mal Clubgänger erschossen werden und mal Schulkinder.
Und Frida Kahlo? Die hat ja eh nie eine Waffe getragen. Das Foto, das gelegentlich von ihr im Internet als Revolutionärin mit Pistole kursiert und auch mal von Madonna gepostet wurde, ist eine Fälschung. Sie bleibt als Ikone der selbstbestimmten, schöpferischen Frau in Madonnas Universum am Start – warum auch nicht? Hauptsache, sie kriegt keine Augenklappe verpasst.