Künstler Franz Erhard Walther

"Beispiel für die schöpferischen Möglichkeiten des Menschen"

Ein Leben für die Kunst – und gegen die Kunst der Zeit. Ein Gespräch mit dem Künstler und Löwen-Preisträger Franz Erhard Walther über Radikalität, fehlende Anerkennung und Körper im Zeitalter des Digitalen

Franz Erhard Walther erhob Handlung zum Werk und beeinflusste ganze Generationen von Künstlern wie etwa Martin Kippenberger, Tino Sehgal, Jonathan Messe und Rebecca Horn – und stieß doch jahrzehntelang auf Ablehnung. Im letzten Jahr wurde der leisetreterische Pionier im Alter von 77 Jahren als "Bester Künstler" bei der Venedig-Biennale für seine radikalen Arbeiten ausgezeichnet. Monopol hat den Fuldaer Künstler in Mexiko-Stadt getroffen, wo er gleich zwei Ausstellungen im Museo Jumex und im Casa Luis Barragán eröffnete.

Herr Walther, angenommen Sie treffen heute den Zwanzigjährigen, der sie einmal waren. Hätten Sie ihm etwas zu sagen?
Vorausgesetzt ich wüsste etwas über ihn, ich hätte wohl sehr viel Sympathie.

Ach, inwiefern?
Ich habe damals sehr viel gewartet, warten müssen. Es war nicht einfach. Ich weiß mittlerweile, was es bedeutet über so eine lange Zeit durchzuhalten.

Die Auflehnung begann schon in den Kinderschuhen.
Ja, meine Familie hatte Pläne mit mir. Es gab vier Bäckereien, aber ich wollte nicht den Juniorchef einer Bäckerei geben. Groteske Vorstellung! Ich bin 1939 in einem Dorf nahe Fulda großgeworden. Es war ein Ort mit religiösen Bindungen. Dazu kamen die schrecklichen Erlebnisse. Ich habe gesehen, wie Menschen deportiert wurden und habe angefangen, die Alten zu fragen: "Was habt ihr gemacht? Warum?" Aber sie hatten keine Sprache. Das waren Konflikte! Es ging nur, indem ich alles um mich weggehauen habe. Mit 16 Jahren bin ich raus. Ich habe nicht einmal gewusst, dass es Kunstschulen gibt, an denen man studieren kann.

An einer sind Sie sogar rausgeflogen – die Frankfurter Städelschule hat sie zwangsexmatrikuliert.
(lacht) Mit der Begründung: Was ich mache, sei einer deutschen Kunsthochschule nicht gemäß. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Denen habe ich gesagt: "Entschuldigung, lecken Sie mich am Arsch."

Auch Ihre Studienkollegen an der Kunstakademie Düsseldorf sprangen nicht gerade sachte mit Ihnen um. Sigmar Polke, Gerhard Richter, Joseph Beuys machten sich über ihre ersten Stoffobjekte lustig – und haben in der Hochschule eine Kissenschlacht veranstaltet.
Da muss man ganz bei sich sein. Beuys hat zu mir gesagt: "Der Walther sattelt jetzt auf Schneider um." Heute kann man drüber lachen. Aber dieses bespöttelt werden ... alle haben Witze gemacht. Die Ironie war: Der Künstler Claes Oldenburg hat ein halbes Jahr später Stoffarbeiten in einer New Yorker Ausstellung gezeigt. Da haben die Jungs die Klappe gehalten.

Ironie, die zweite: Für Beuys war jeder Mensch ein Künstler, Sie haben mit ihren Arbeiten jeden Menschen letztendlich zum Künstler gemacht?
Sinngemäß ja. Wir waren bis zum Ende im Krieg. Nicht von meiner Seite. Er konnte es offensichtlich nicht ertragen, dass da ein junger Kerl ist, der für seine Sache einsteht. Mein Werkkonzept hat ja eine Logik!

Welche denn?
Stücke an sich haben keine Bedeutung. Für mich war es so, dass erst in der Handlung, erst in der Person der Handlung Bedeutung entsteht. Das war ein ganz anderes Konzept, das konnte er überhaupt nicht schlucken.

Im Zentrum Ihres Schaffens steht ein offener Werkbegriff. Im Umgang mit ihren Arbeiten entwickelt der Mensch Werk in sich selbst. Mit seinem Körper. Durch Interaktion. Wie kam es dazu?
Mit 19 Jahren habe ich Arbeiten begonnen, mit der Vorstellung, dass es nicht homogene, in sich geschlossene Werkstücke sein müssen. Ich hatte die Idee, der Betrachter soll teilnehmen, er soll das Werk in der Vorstellung entwickeln. Ich habe sogenannte Umrisszeichnungen gemacht. Sie sollten nicht abstrakt sein, aber auch nicht Gegenstände umreißen. Ich wollte irgendetwas dazwischen. Eine Linie durfte zum Beispiel keine speziellen Eigenschaften haben. Sie sollte neutral sein. Mit der Vorstellung, dass die Betrachter den Binnenraum in der Imagination füllen.

Das klingt erst mal nicht so revolutionär. Wie ging es weiter?
Von der Imagination als Handlung zur physischen Handlung war es ein Riesenschritt. Das hat gebraucht und begann 1962. Ich habe zuerst den Materialprozess dem Malprozess gegenübergestellt. Ich fand den Begriff "Informel" wunderbar. "Informel". Formlos, ohne Form, abseits von Form. Aber alles endete doch in Bildern! Ich kann aber versuchen, dem Ganzen imaginativ eine Form zu geben. Denn Kunst ohne Form gibt es nicht.

Ihnen ging es vor allem darum, dass Kunst nicht an der Wand endet?
Ich habe mich vielmehr gefragt: Wie ist es, wenn ich den Malprozess in einen Materialprozess überführe? Da ist sie wieder: Handlung! Zuerst habe ich es Papierklebungen probiert. Sie lagen als Stapel auf dem Boden und waren so etwas wie eine Skulptur oder hingen an der Wand und repräsentierten etwas wie ein Bild.

Noch fehlt der volle Körpereinsatz einer Person.
Es ging weiter. Wie ist es, wenn ich etwa das Beidseitige, das Vorläufige zum Thema mache? Es folgten Arbeiten aus Pappkörpern in der Größe einer Hand, die ich mit Gipspulver gefüllt, mit Klebestreifen ummantelt und mit Nesselstoff umklebt habe. Wenn sie auf dem Tisch liegen, sind es merkwürdige plastische Körper, wenn ich sie in der Hand halte, werden die Hände zum Sockel. Das fand ich einen tollen Gedanken. Arbeiten, mit denen man handelt. Im Wortsinn. Ich fragte mich: Warum nur die Hand? Dann habe ich Stücke ­entwickelt, die am Körper ansetzen und somit den den Körper zum Sockel machen. Aber noch gab es ein Problem. Die Klebungen hatten noch die Konnotation der Collage!

Das muss sie wahnsinnig gemacht haben!
Aus Zufall habe ich Glanzkissen beim Schneider entdeckt. Sie wurden in den Ärmel hineingeschoben, um Schultern auszubügeln. Die hatten eine ähnliche Form wie die geklebten. Heureka! Ich habe sofort begriffen, was es bedeutet. Ich hatte eine Technik, die es in der Kunstgeschichte noch nicht gab. Sie war neutral. Ohne Konnotation und Erinnerung. Ich konnte Dimensionen erschaffen, die mit Überklebungen nicht zu erreichen waren. Es wurde, über das Körperliche hinaus, räumlich.

Alles gipfelte in Ihrem 1. Werksatz, einem Ensemble aus 58 Stoffarbeiten, die erst durch Menschen zum Leben erweckt werden. Sie verweben sich in Stoffen, berühren, tasten, fühlen, spüren ihr eigenes Gewicht.
Sehen Sie! Um noch mal auf den Begriff Material zurückzukommen. Erst in der Handlung verwandelt es sich in Werk. Das ist die Betrachtungsweise, die ich meinte. Ich musste mich fragen, was ist denn nun wirklich das Material. Wenn das Werk in der Handlung sein soll. Konsequenterweise der eigene Körper. Dann die Zeit, die ich artikuliere. Mit der ich arbeite. Reale Zeit. Als auch der Raum, er ist nicht einfach da. Er wird definiert. Es ist genauso Material für mich, wie der mit traditionellen Mitteln hantierende Bildhauer, der mit Stein arbeitet.

Anscheinend war mit Ihrer Werkkonzeption in Europa der 60er-Jahre nicht viel zu holen. Sie sind nach New York gegangen.
Die Kunst der Zeit in New York war die Pop-Art. Die habe ich als erfrischend empfunden. Ich kannte das Werk von Barnett Newman ganz gut. Ich hatte es zum ersten Mal auf der Documenta gesehen. Diese Bilder haben für mich Großzügigkeit bedeutet, Freiheit, Weite, Offenheit. Das war der Grund, nach New York zu gehen. Das habe ich dort gefunden.

Marcel Duchamp wollten Sie unbedingt treffen. Was hat den großen Star der Kunstszene dazu bewegt, einem damals unbekannten Künstler aus Europa kennenlernen zu wollen?
Zunächst: Er hatte einen sammelnden Maler, William Copley, Sohn eines reichen Tycoons. Seine damalige Lebensgefährtin Barbara Brown hat die ganze New Yorker Kunstszene fotografiert und hat auch für mich Aufnahmen gemacht. "Oh, that’s interesting. I would like to show it to Marcel." Danach hat mich Duchamp angerufen, er hatte eine leichte Fistelstimme, hell – und wollte diese komischen Künstler treffen, der Handlung zu Werken erklärt. Er war neugierig. Ich dachte nur: "Somebody would like to put me on."

Wie ging es weiter?
Er wollte mich in den nächsten Tagen treffen, bevor in seinem Heimatstädtchen Neuilly zum Urlaub aufbrach. Ich konnte nicht und habe gefragt, ob wir uns danach sehen wollen. Ich habe mich wahnsinnig darauf gefreut.

Zum ersten Mal findet Ihr Werk in der Kunstwelt Beachtung – und dazu bei solch einer Ikone ... und dann?
Es war Herbst. Ich erinnere es noch genau. Ich bin mit dem Nachtbus die First Avenue heruntergefahren und habe die "Daily Mail" gelesen.  Da stand drin: "Duchamp died at the age of 81."

Was haben Sie gedacht?
Ich war so betroffen. Natürlich hätte ich mich gefreut ihn zu sehen und habe mich gefragt: "Was hätte er zu meiner Arbeit gesagt?"

Was glauben Sie?
Er hätte die Radikalität gesehen. Er war selbst so. Ich hätte mir erlaubt, mit ihm zu diskutieren. Ein Text von ihm wurde im "Aspen"-Magazin veröffentlicht. Darin beschreibt er, dass es das Werk in sich nicht geben muss. Es muss erst jemand hinzukommen, der es realisiert. Was er meinte: Das Werk ist zwar da, aber es braucht den Betrachter. Ohne Betrachter existiert es nicht. Ich hätte gesagt, das Werk existiert überhaupt nicht. Es entsteht erst in der Person. Das ist noch mal ein ganz anderer Schritt! Seinen Text fand ich  toll, aber ...

Sie hätten sich also auch mit Marcel Duchamp angelegt – empfinden Sie sich eigentlich als Rebell?
Oh ja, das war ich immer. Ich habe mich immer für Kunst interessiert, die rebellisch war. 19. Jahrhundert etwa: Cezanne. Das war für mich vom Bildbegriff der Radikalste. Das brauchte ich. Ich wollte aus der Geschichte der Kunst austreten, weil ich fand, dass Dinge zu oft wiederholt wurden. Verbraucht waren. Nur noch abgewandelt wurden. Das wollte ich nicht, dafür ist meine Lebenszeit zu schade.

Was bezwecken Sie mit Ihrer Kunst?
Ich möchte ein Beispiel für die schöpferischen Möglichkeiten des Menschen geben.

Haben Sie mit Ihren "Wandformationen" nach 1969 die Handlungsmöglichkeiten nicht wieder stärker eingeschränkt?
Ich wollte keine Wiederholungen machen! Aber auch nicht den Handlungsbegriff verraten. Es gibt in den Wandformationen meistens eine Standstelle, in die man hineintreten kann. Sie hat den Charakter eines Sockels, nur um 180 Grad gedreht. Es gab die Vorstellung, nicht vor einem Werk davorzustehen, sondern in es hineinzutreten. Wenn ich davorstehe und mich nicht gleichzeitig darin befinde, bleibt es ein Fragment. Wenn ich mich hingegen darin befinde, habe ich es mit dem eigenen Körper ergänzt und mache ich es somit zum Sockel. Und wieder: Es bleibt ein Fragment! Weil ich es nicht sehen kann. Interessanter Gedanke, der im "1. Werksatz" nicht zu denken war.

War es für Sie eine Genugtuung, letztes Jahr zum ersten Mal nach Venedig zur Biennale zu fahren und gleich den Goldenen Löwen abzuräumen?
Ich habe überhaupt nicht damit gerechnet. Bei der Hauptausstellung waren ja fast nur junge Leute da, mit neuen Produktionen. Ich sagte mir, für die Biennale mache ich nichts Neues. Das ist nicht meine Welt. Ich zeige "Wandformationen mit Schreitsockel". Die sind über 40 Jahre alt. Es war für mich eine Riesenüberraschung, dass die Arbeiten von damals als aktuell empfunden wurden. So hat es die Jury formuliert und hat die Radikalität hervorgehoben, die in den Arbeiten drinsteckt.

Schildern Sie doch einmal bitte genau, wie es ablief.
Mich rief die Chefin der Organisation an: "Franz, könntest du zur Verleihung kommen." Ich sagte nur: "Warum?" Sie bestand darauf: "Du musst kommen." Ich dachte, die wollten mich zur Dekoration dasitzen haben. Am nächsten Morgen bin ich zum Markusplatz gegangen. Ein Riesensaal, voller Menschen. Eine große Bühne. Vorne standen die Golden Löwen. Es gab viele Fernsehkameras. Nun gut, da habe ich mich halt in die letzte Reihe gesetzt. "Nein Franz, du musst vorne sitzen." "Also doch, Dekoration", dachte ich. Das hat lange gedauert, bis es in meinem Kopf dann ankam. Die Reaktionen aus aller Welt. Davon muss man sich freimachen. Ich bin doch plötzlich niemand anderes!

Ihr Werkkonzept ist nie abgeschlossen, jedes Element nur vorläufig, fragmentarisch. Vielleicht haben Sie gewissermaßen ein digitales Phänomen vorweggenommen? Nichts ist final und kann je nach Kontext interpretiert werden.
Der Künstler Peter Weibel hat eine Ausstellung gemacht und gesagt, ich sei für ihn einer der wichtigsten Künstler des 20 Jahrhunderts. Warum? Ich habe den Gebrauch eingeführt: den User. Handeln als Benutzen. Das war für ihn ein gigantischer Vorgriff. Das war mir nicht bewusst.

"Die Körper der 80er-Jahre haben mehr Physis", heißt es in ihren Wortbildern. Was glauben Sie: Wieviel Physis haben heutige Körper noch im Zeitalter des Digitalen?
Es ist eine Bewusstseinsfrage. Ich weiß, dass ein Gefühl für Körperlichkeit, im Raum und in der Zeit zu sein, blass geworden ist. Im Raum schwebt so viel Unstoffliches. Es ist nicht konkret. Nicht da.

Die letzte Grenze, der wir nicht entkommen, ist der Körper – stimmen Sie zu?
Für mich ist er Zentrum, für das, was da ist. Es kann alles hineinfließen. Auf die Zukunft gerichtet, ist er zunächst eine Grenze, die ich erweitern kann. Dazu muss ich allerdings ein Bewusstsein haben, für meinen Körper im Raum und eine Vorstellung von Zeit. Beides geht heutzutage verloren. Zeit und Raum. Als sinnliches Ding, das Gestalt hat.

War es einmal anders?
Ich muss in die Geschichte hineingucken, wie sich Raum organisiert, wie Menschen den Raum im Alltag organisiert haben, wie Künstler den Raum definiert haben. Ich gehe zurück zur klassischen Zeit der Ägypter. Wenn Sie etwa den Gott Horus nehmen. Ich glaube, er hat immer den rechten Fuß vorne gehabt, er hatte immer eine Richtungsorientierung. Die Griechen haben das übernommen. In der Klassik entsteht das Standbein und Spielbein. Und erst dann kreist die Person, um sich, in sich im Raum. Und ich sehe Zeiten in der Geschichte, wo der Raumbegriff schwach ist.

Was passiert dann, wenn Körper und Raum schwächer werden?
Dann leidet alles andere. Die Sprache. Der Alltag. Der Bezug. Die Erinnerung. Artefakte gehen kaputt und verloren. Man weiß nicht mehr, was sie bedeutet haben.

Was war eine Ihrer ersten Erinnerungen?
(leise) Ich habe einen Transport gesehen. Menschen in Viehwaggons. Aus Holz waren sie. Der Zug war geschmückt mit abgebrochenen Ästen und Zweigen. Es war im Mai. Die Menschen haben nach Wasser gerufen. Meine Großmutter ging zu einem Brunnen, wir hatten eine Pumpe, sie wollte ihnen Wasser bringen. Die Wache befahl nur: "Gehen sie hier weg!" Der Zug fuhr weiter. Ich hatte eine Ahnung als Kind: "Das geht gar nicht!" Ich wusste aber nicht richtig, was es war. Ich habe mich gefragt, warum an dem Zug Zweige dran sind. Es war eine Tarnung. Sie haben eine Pfingstfahrt simuliert. Der Zug kam vom Westen und fuhr nach Osten in die Konzentrationslager. Wenn ich dort bin, sind diese Bilder sofort wieder da. Bis ins Detail. Ich weiß noch, welches Geräusch die Pumpe gemacht hat. Wie die Räder quietschten. Mich hat das geprägt. Zu sehen, dass es keine Sicherheit in der Welt gibt. Dass, alles zerfallen kann. Ich glaube, das ist einer der Gründe, dass mein Werk fragmentarisch ist. Zu sehen: Alles ist zerbrechlich. Alles zerfällt.