Anish Kapoor bei der Monumenta 2011 in Paris

Fragiles Monster

Die Überraschung ist Anish Kapoor gelungen. Statt die Halle des Grand Palais zu betreten, wird der Besucher der vierten Monumenta in Paris verschluckt. Er landet direkt im Walbauch, in einem begehbaren Schlauch mit drei riesenhaften kugeligen Ausbuchtungen. Das Rot-Violett der Hülle nebelt ein, lässt Tiefen verschwimmen. „Leviathan“, so heißt das Großwerk des in Großbritannien lebenden indischen Künstlers, ist nach einem biblischen Seeungeheuer benannt. Kapoor, geboren 1954 in Bombay, ist der vierte Künstler, der das beeindruckende Bauwerk aus  dem Jahr 1900 bespielen darf, nach Anselm Kiefer, Richard Serra und Christian Boltanski. In ihm hat die jährlich stattfindende Monumenta einen Künstler gefunden, der ihrem Namen alle Ehre macht. Kapoor denkt monumental. Und im Sinne der Architektur.
 
Wenn die Sonne sich blicken lässt, bilden sich die Streben des Grand Palais-Glasdachs ab, sie kreuzen sich mit den Nähten der Membran. Gerne würde man diese sanfte Hülle, die organisch wirkenden Öffnungen, diese Münder, abtasten. Doch das ist verboten, das mit 72 000 Kubikmeter Luft gefüllte Großwerk ist zu fragil. Der Luftdruck muss stabil bleiben, sonst sackt das 11 Tonnen schwere Zelt in sich zusammen. Deswegen geht es auch nur einzeln durch eine Drehtüre hinein, in den Ohren knackt es. Selten verschwimmen Technik und Schönheit so überwältigend. Selten ist minimale Kunst aus PVC so fleischig warm.

Kapoors Spiel mit Wahrnehmungen, für die er mit seinen monochromen Großplastiken international bekannt geworden ist, steigert sich beim Hinausgehen auf dramatische Weise.  Plötzlich steht man vor der Außenhülle, begreift nun die Form des Gebildes, eine monströse Aubergine mit drei Einschnürungen und kugeligen Fortsätzen. Man hat Mühe den frischen Eindruck von Innen mit dem Außen abzugleichen. Wo ist das wohlige Gefühl aus dem Uterus-Inneren plötzlich hin?

„Leviathan“, das ist auch Kapoor selbst. Er verschlingt den Besucher, er weiß um die bannende Wirkung gigantomanischer Kunstprojekte. „Leviathan“, so heißt aber auch das bekannteste Werk des im 17. Jahrhundert lebenden Staatskritikers und Philosophen Thomas Hobbes. Er bezeichnete damit den übermächtigen Staat. Kapoor hat seine Installation deshalb kurzerhand dem inhaftierten chinesischen Künstler und Regimekritiker Ai Weiwei gewidmet.

Die Aggressivität anderer Arbeiten sucht man dieses Mal vergeblich. „Svayambh“ etwa besteht aus einem roten Wachsblock, der sich durch Türen und Flure schiebt. Der schmierige Riegel presst sich eng durch die Öffnungen und hinterlässt dabei blutrote Spuren an den Wänden. Im Münchner Haus der Kunst hatte Kapoor so auf die nationalsozialistische Architektur reagiert.
Der „Leviathan“ hingegen eckt nirgendwo an, seine glänzenden Rundungen schmiegen sich in die drei kreuzartigen Schiffe. Und dennoch ist sein Anblick bedrohlich, allein wegen der schieren Größe. Albtraumartig hat es sich hier ein Wesen in der gewaltigen Leere des 35 Meter hohen und 13 500 Quadratmetern großen Grand Palais gemütlich gemacht. Man selbst schrumpft zur Ameise.


Monumenta, Grand Palais, Paris, bis 23. Juni