Als er gefragt wurde, ob er sich eher als Sozialdokumentarist erachte oder als jemand, der auf Ästhetik abziele, sagte er: "Ich erachte mich auf überhaupt gar keine Art und Weise." Eine gute Antwort, für seine Kanonisierung aber nicht besonders dienlich. Der 81-jährige Boris Mikhailov fotografiert schon seit fünf Jahrzehnten, doch hat er es sich und seinem Publikum nicht immer leicht gemacht.
Seine bekanntesten Aufnahmen triefen vor Alkohol und stinken nach Urin. Sie entstanden ab den 90er-Jahren auf Streifzügen durch seine ukrainische Geburtsstadt Charkow, wo die Perestroika die Flaschen voll und die Gesichter leer gemacht hat. Wir sehen Alte ohne Obdach, Jugendliche ohne Zähne, aber mit Wodka und Kippen und Cola und Jogginghose. Ein Albtraum aus Postsozialismus und Spätkapitalismus.
Solcher Trash, solche Drastik sind, zum Beispiel bei Fotografen wie Terry Richardson, inzwischen in Mode gekommen – mit dem Unterschied, dass Mikhailov mit dem Elend anderer keine Fashionmagazine schmücken will. Oft sehen wir ihn, einen Charkower durch und durch, selbst auf seinen Bildern.
Zugleich pfeift er auf die Political Correctness der Reportagefotografie. Boris Mikhailov hat Penner fürs Nacktposieren bezahlt, Armut allein, meint er,
schrecke heute keinen mehr auf. Noch zu Sowjetzeiten kolorierte er Bilder manuell, um den Geist der aufkommenden Pop-Ära zu persiflieren.
Schonungslos, humorvoll ist dieses Werk, es zeichnet auf und zeichnet nach, immer voll auf die Zwölf. Davon kann man sich jetzt in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden ein Bild machen: Sie zeigt Werkzyklen von 1965 bis heute und fokussiert auf den Konzeptualismus im Schaffen von Boris Mikhailov. Wir zeigen eine Auswahl der Fotos in der Bildstrecke oben.