Interstate 87, Herbst 2009. Durch die gelb-golden-rot belaubten Wälder geht es auf der Autobahn nach Upstate New York. Rechts überholt uns ein schwarzer SUV, der unserer Glamourkarosse ganz ähnlich sieht. Plötzlich blinken bunte Lichter, eine Sirene geht an, wir müssen auf den Randstreifen fahren und anhalten.
Zwei Polizisten, angezogen wie in einem Roadmovie mit zu engen Uniformen und verspiegelten Ray-Ban-Sonnenbrillen, fordern uns auf, die Scheiben herunterzuschrauben. Sie stehen auf meiner, der Beifahrerseite, aber ich denke, ein deutscher Akzent ist jetzt nicht hilfreich, und sage kein Wort. Sie sprechen zum Fahrer, dem Junggaleristen Vito Schnabel, der aussieht wie ein Surfer auf Landurlaub. Unser Auto sei in Upstate New York illegal, wir könnten ja gerne in der Stadt damit fahren, aber in dem Bundesstaat seien derartig dunkel getönte Scheiben nicht erlaubt. Zu viel Illegales würde sonst hier passieren.
Wir müssen nicht die Hände heben oder aussteigen, wie man es aus zu vielen Filmen kennt, doch die Polizisten wollen trotzdem das gesamte Auto inspizieren. Weil die hinteren Fenster unseres Autos nicht herunterfahren, müssen die Türen geöffnet werden. Und auf der Rückbank sitzt, ganz in Weiß gekleidet, mit rasiertem Kopf, einem verklärten Lächeln, ausgebreitet auf einer weiß glänzenden Nerzfelldecke, die ihn von den profanen Ledersitzen trennt: Terence Koh. Die Polizisten sind sich nicht ganz klar darüber, ob das hier der kleine Bruder vom Dalai Lama oder die asiatische Version von Jay-Z ist, aber irgendwie muss das schon seine Richtigkeit und Wichtigkeit haben – sie lassen uns ohne weitere Fragen und mit unseren dunklen Scheiben weiterfahren.
Fünf Jahre später, derselbe Highway, aber diesmal geht es statt mit Limousine und Vito Schnabel in einem Greyhound-Bus gen Norden. Ich steige in Rosendale aus, einer Haltestelle, die eigentlich nur ein Stopp ist für Pendler, aber an diesem Sonntag ist hier niemand außer mir. Das Häuschen, das im Winter den Wartenden ein bisschen Schutz gibt, steht offen: ein Cola-Automat, ein zweiter mit Snacks und eine große Toilette – sonst nichts.
Ich setze mich auf die Bank und warte. Terence Koh hat sich irgendwo hier aufs Land zurückgezogen. Wie zu seinen verwegenen Zeiten hat er immer noch kein Handy oder auch nur ein funktionierendes Telefon, aber damals war es auch einfacher, er hatte Assistenten oder Groupies, die unter irgendeiner Nummer schon antworten würden.
Ich habe nur eine Zeit, Sonntagmorgen 11 Uhr, und diese Bushaltestelle als Koordinaten für unser Treffen bekommen. Nach extrem langen 35 Minuten kommt er wirklich vorbei. In Jeanslatzhose und kariertem Flanellhemd holt er mich mit seinem Lebenspartner, dem Grafikdesigner Garrick Gott, in einem Auto ab, das vollgestopft ist mit landwirtschaftlichen Utensilien und einem Filzhut. Es sieht eher aus wie ein Campingwagen.
Wir fahren los und halten an einem Wochenmarkt, wo die lokalen Bauern Kürbisse, Tomaten, Paprikaschoten, Gurken, Äpfel anbieten. Hinter einem der Verkaufsstände verkündet ein großes Schild, dass dieser Stand auch Essensmarken akzeptiert, was nicht dafürspricht, dass diese Gegend sehr wohlhabend ist. Den Stand nebenan bewacht eine Nordamerikanische Schleiereule.
Wir fahren durch ein 2800 Quadratkilometer großes Landschaftsschutzgebiet, über den Damm einer riesigen Talsperre, die die Trinkwasserreserve für die Stadt New York bereithält, vorbei an einem blauen Wasserfall, immer weiter hinein in die Catskill Mountains. Schließlich endet die Straße irgendwo Richtung Berggipfel. Wir steigen aus und betreten ein Farmhaus aus den 50er-Jahren.
Ist das der Ort, an den sich der noch vor fünf Jahren derartig erfolgreiche Künstler Terence Koh zurückgezogen hat, nachdem er auf den Covern von fast allen Kunstmagazinen abgebildet war und Ausstellungen in großen Museen überall in der Welt hatte, mit Lady Gaga für die Grammys zusammengearbeitet hatte und wilde, ausschweifende Feste feierte, wo immer er aufschlug? Das Enfant terrible mit zu viel Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll.
Nachdem wir kurz das Farmhaus besuchen, geht es einen Hohlweg weiter bergauf, die Herbstwälder hier sind schon fast unbelaubt, es ist ein paar Grad kälter als noch in Rosendale. Irgendwann erreichen wir eine Lichtung. Unter einem Baum ist ein Marmorschachbrett ausgebreitet. Terence Koh hat auf der Internetseite oldboat.com einen alten Kutter bestellt, als seinen Privatraum. Dann hat er, ebenfalls online, einen Überseecontainer geordert, der sein Tagesatelier ist. Durch zwei große Metalltüren tritt man in den fast zehn Meter langen Stahlkubus. Hier sind einige seiner weißen Skulpturen untergebracht, ein ganzer Stapel an Zeichnungen und links der weiße Federkragen, den damals Alexander McQueen für Terence angefertigt hat. Irgendwo in der Ecke ein Plattenspieler und alte LPs.
Terence sagt, wenn man hier nachts arbeite, sei es fast so wie auf hoher See, man mache irgendwann die Tür auf und sei einfach nur in vollkommener Dunkelheit. Er zeichnet hier, jeden Tag, Stunde um Stunde, in dieser Abgeschiedenheit. Zeichnen ist seine tägliche Praxis, es ist fast wie lesen, fast wie schreiben. Die Umgebung ist ideal – kein Verkehr, kein Stadtlärm stören diese Ruhe.
Aber es geht noch ein bisschen weiter hoch auf den Berg und zum Gipfel. Wo irgendwann mal vielleicht ein altes Bauernhaus stand, hat Terence ein riesiges weißes Indianerzelt aufgestellt, ein weiteres Internetfundstück. Im Tipi sind ein paar Möbel und eine große Holzbox aufgestellt, die dummerweise, da der Schreiner Terence' Namen erkannt hatte, aussieht wie eine Kunsttransportkiste, aber drin sind nur feinste Bettwäsche und Filzdecken.
Das Zelt ist Terence’ Meditationsraum und der Ort, an dem er nachdenkt. Hier verbringt er seine Zeit, wenn er nicht zeichnet. Er könne hier wirklich Tag und Nacht vergessen, sagt er. Und schlafen, wenn es nicht zu kalt ist. Neulich zelebrierte er hier ein Einweihungsritual, zu dem ausschließlich andere Künstler eingeladen waren. Mit einem metallenen Gong wurde der Vollmond laut begrüßt. Irgendwann wird das eine Musterfarm. Seine Kunst sei jetzt "agricultural practice als soziale Plastik", wie Terence mir zu erklären versucht.
Doch an diesem Herbsttag wird es trotz Lagerfeuer und Tee nicht wirklich warm und sehr früh dunkel. Ich muss daran denken, dass nur 50 Kilometer entfernt von Manhattan kürzlich ein Student von einem Bären getötet und halb gefressen worden ist. Wer würde uns hier hören?