Eine Geschichte wie aus einem Drehbuch mit Hang zum Pathos: Ein kleines, abgelegenes Städtchen stellt sich dem schier allmächtigen Kunstmarkt des Westens. Die Bewohnerinnen und Bewohner von Lusanga in der Demokratischen Republik Kongo haben sich zu einem Kunst-Kollektiv zusammengetan, eine Kooperative gebildet, und stellen aus dem Lehm des benachbarten Flusses Skulpturen her. Doch das allein wäre zu kurz gegriffen: Sie werden noch vor Ort 3-D-gescannt und später in den Kunst-Hotspots weltweit ausgestellt - als Reproduktionen aus Schokolade. Ein konzeptionelles Projekt durch und durch, denn das Kollektiv ist dort zu Hause, wo die Rohstoffe für die Süßigkeit angebaut werden. Von der Tate in London bis hin zum Sculpture Center in New York, der zarten Verführung der Schoko-Kunstwerke kann niemand widerstehen. Kleine Versionen können direkt bei der Eröffnung gekauft und mit nach Hause genommen werden, die Erlöse gehen unmittelbar zurück ins Dorf.
Die "New York Times" widmet der Ausstellung mehrere Seiten, das Projekt kommt ins Fliegen, genug Fördergelder kommen zusammen, dass das renommierte Architekturbüros OMA, ursprünglich gegründet von Stararchitekt Rem Koolhaas, ein Museum entwirft, das schließlich gebaut wird und nun mit dem süffisanten Namen White Cube in Lusanga steht. Happy End, Abspann, was für ein Erfolg!
Der Dokumentarfilm "White Cube" (2020) des niederländischen Künstlers Renzo Martens erzählt genau diese Geschichte. Das KW Institute for Contemporary Art zeigt ihn bis 11. April in ihrem Online-Programm und ist damit der Berliner Ableger verschiedener Institutionen weltweit, die den Launch des Films begleiten. Er zeichnet die verschiedenen Stationen des Projektes nach, das sich über um Martens’ langjähriges Wirken in der Demokratischen Republik Kongo erstreckt und schließlich in die Gründung des Cercle d’Art des Travailleurs de Plantation Congolaise (CATPC) mündet, wie die Kunstkooperative offiziell heißt.
Was kann Kunst für die Welt tun?
Man kann die 79-minütige Dokumentation als Promovideo der Entstehung der kongolesischen Kunstkooperative sehen, quasi als weiteren Schachzug, der sich die Logiken des globalen Kunstmarkts aneignet und sie geschickt mit den Werkzeugen der Aufmerksamkeitsökonomie steuert. Doch auch das wäre zu kurz gegriffen: Es schlummern bittere Noten in der Abwandlung der David-gegen-Goliath-Geschichte.
Lusanga ist eine ehemalige Palmölplantage in der Demokratischen Republik Kongo und war früher als Leverville bekannt – angelehnt an Unilever als deren Betreiberin. 1911 hatte der Brite William Lever das Land rund um Lusanga beansprucht und nutzte den Rohstoff für seine innovative Seifenproduktion, die später zum Megakonzern Unilever heranwachsen sollte. Unterbezahlte Arbeiterinnen und Arbeiter, umweltschädliche Monokulturen und kapitalistische Megalomanie inklusive.
Nun sind die Böden ausgebeutet, die Plantage seit 1995 stillgelegt und Lusanga blieb seinem Schicksal überlassen. Bis Renzo Martens mit der Idee der Schoko-Skulpturen einzog und den Bewohnerinnen und Bewohnern Hoffnung und eine finanzielle Zukunft gab. So trägt auch die Schokolade, in denen die Skulpturen gegossen werden, eine zynisch-politische Dimension. Der Abbau ihrer Hauptingredienzen – Palmöl und Kakao – betont die Ausbeutung der Ressourcen der Ex-Kolonie und stellt die Kunst in den Kontext von Konsumgütern. "Was kann Kunst für die Welt tun?", fragt Martens in einer Stelle im Film. Die Kooperative in Lusanga ist eine mögliche Antwort. Aber eine einfache Antwort gibt es in diesem Fall nicht.
Die Idee zum Projekt entstand, als Martens eine Ausstellung in London eröffnete und an den Wänden der Tate das Sponsoren-Logo von Unilever prangen sah. Ein Paradebeispiel von Art Washing, einer Form der Absolution für die koloniale Vergangenheit. Solange sie in die Künste fließen, konnte man lange darüber hinwegsehen, dass die finanziellen Mittel das Ergebnis fragwürdiger Verstrickungen sind.
Sein ganzes Leben habe er von Ungleichheit und Armut profitiert, sagt der Künstler in einer Interviewsequenz. Martens übernimmt nun Verantwortung, nutzt seine Privilegien, um etwas für die Unterdrückten und Benachteiligten zu tun. In den ersten Minuten des Films sieht man ihn im weißen Hemd und mit Strohhut am Flussufer. Er benetzt sein Gesicht mit Wasser und heftet seinen Blick heroisch in die Ferne. Die Anspannung ist fast unerträglich, so inbrünstig hofft man, dass diese Beuys-Abwandlung nicht sein Ernst ist, wenn er in Lederhalbschuhen durch den Wald kraxelt. Alles eine Inszenierung des White-Savior-Komplexes? Doch das allein wäre - Sie ahnen es - zu kurz gegriffen.
Ein neokolonialer Kunst-Heiland?
Es gibt viel Kunst, die sich mit ihren ökonomischen Verstrickungen befasst und sie kritisch hinterfragt. Doch letzten Endes landen die Werke zu diesen Themen in den immer gleichen Ausstellungskontexten, und was dabei finanziell herausspringt, kommt nicht an den richtigen Stellen an. Martens sagt viel Wahres in "White Cube". Wenn er spricht, liegt im Hintergrund stets ein dezenter Stapel Bücher. Zuoberst erst "White Fragility", später im Film dann "White Innocence". Martens Inszenierung ist so beißend ernst, dass man sie zeitweise als Sarkasmus ummünzen muss, um sie fassen zu können.
Bevor das Projekt in Lusanga glückt, zeigt der Film einen ersten Versuch, den das Team einige Zeit zuvor in einer noch aktiven Plantage startete. Dort organisierten sie eine Konferenz zum Thema Kunst, Entwicklung und Kritik und luden die Arbeiterinnen und Arbeiter am Abend ein, teilzunehmen. Ein gefeierter Ökonom würde seine These zu kulturellem Kapital, das in jedem Menschen schlummert, vorstellen, das OK der Plantagenbesitzer kam rechtzeitig aus London. Die Einladung wird ausgesprochen, nachdem ein Arbeiter seinen Monatslohn vorrechnet und erklärt, dass nach Abzügen nicht genug übrig bleibe, um Essen zu kaufen. Aber hey, nächsten Dienstag treffen sich alle und debattieren den zeitgenössischen Kunstdiskurs. Die Absurdität der Situation ist grausam, doch "White Cube" Pietätlosigkeit zu unterstellen, wäre – natürlich – auch wieder zu kurz gegriffen.
Pietätlos erscheint es nur uns Zuschauerinnen, die in ihren Wohnzimmern sitzen und diesen Film mit Laptop im Schoß streamen und sich genau mit diesen Diskursen befassen. Die merken, wie absurd all das ist, aber keinen wirklichen Plan haben, diese Absurdität aufzulösen. Ist Martens nichts weiter als ein Kunst-Heiland, der mit seiner Idee der Kunst-Plantage Lusanga eine seltsame Form von Neo-Kolonialismus aufdrückt? Der die Palmölproduktion mit Skulpturenmanufaktur ablöst? Solche Fragen überhaupt zu stellen, entlarvt sich am Ende wieder als reiner Diskursfetisch.
Ein sich selbst versorgendes System mit den Mitteln der Kunst
Etwa nach einem Drittel des Films sagt Matthieu Kasiama, einer der Bewohner von Lusanga, dass er Künstler werden will, um die Geschichte zu erzählen, wie es jemand aus der Armut zum König schafft. Erst wirkt er vorgeführt mit einem so naiv hoffnungsvollen Traum, doch eigentlich gibt ihm der Verlauf des ganzen Projekts Recht. Er ist es auch, der zur Ausstellungseröffnung nach New York reist und im Sculpture Center dem hippen Kunstpublikum die Schokowerke präsentiert.
Der Alltag der Mitglieder der CATPC Kooperative hat sich tatsächlich verändert. Wie kann man aufgrund der Ambiguität der ganzen Idee ihren subversiven Charakter absprechen? Renzo Martens hat mit den Mitteln der Kunst ein sich selbst versorgendes System geschaffen, das mit den vielfältigen Konsequenzen des weltweiten Schlamassels, in dem wir stecken, umgeht und sie sich zunutze macht. Den wenigsten Käuferinnen und Käufern der kleinen Schoko-Skulpturen wird die Komplexität der Anlage bewusst sein, aber solange ihr Kauf die Mitglieder der CATPC finanziert, tut Kunst endlich doch etwas anderes als ihr kränkelndes System der aufgeblasenen Sinnhaftigkeit zu reproduzieren.
Die Kooperative hat inzwischen Teile des Lands zurückgekauft und bewirtschaftet es biodivers. Der White Cube der Stararchitekten inmitten der Felder wird zum augenzwinkernden Denkmal für eine neue Form von Museum, Kunst wird zum Verbündeten für Mensch und Natur. "White Cube" zeigt, was alles möglich ist, wenn man die Lähmung der Schuld endlich hinter sich lässt.