Es ist Sommer, ewiger Sommer. Die 14-jährige Jeanne (Jana McKinnon) balanciert einen Schmetterling auf den Fingern, sie und die anderen Kids baden im See, malen, spielen, reiten. Ein Leben wie ein Ponyhof, so scheint es. Wenn man’s als Zuschauer nicht besser wüsste, würde man sich ganz reinfallen lassen in das Wärme-, Freiheits- und Gemeinschaftsgefühl, das die erste Filmhälfte dominiert. Und ist das nicht toll: Performance und Kunsttherapie den lieben langen Tag?
Doch schon der Filmtitel widerspricht: "Servus Papa, See You in Hell". Papa, das ist Otto, der Oberguru einer Lebensgemeinschaft und Künstlerkolonie auf einer Insel, die in Wahrheit keine ist. Es braucht Zeit, Standfestigkeit und Mut, um das falsche Paradies als solches zu durchschauen. Auch davon, von einer Befreiung, erzählt der Film.
Während die Hauptstadt sich für einen Winter wappnet, der ungemütlich zu werden droht, treffen wir am Abend der Berliner Filmpremiere den Filmregisseur Christopher Roth und Jeanne Tremsal, die in "Servus Papa" ihre eigene Mutter spielt und die im Drehbuch ihre eigene Geschichte aufgeschrieben hat.
"Das wäre doch nicht auszuhalten"
Die in Frankreich geborene Schauspielerin wuchs in der Kommune des Aktionskünstlers Otto Muehl (1925-2013) auf, der 1991 unter anderem wegen Kindesmissbrauchs ins Gefängnis kam. "Ein deprimierendes Thema", sagt Tremsal, "kaum zu ertragen", deshalb habe man mit Sommerstimmung dagegenhalten müssen. "Wir brauchten die Pferde, das Baden, die Natur. Wenn man das im grauen Winter und nur in Innenräumen erzählen würde, das wäre doch nicht auszuhalten. So haben wir die Geschichte für das Publikum zugänglicher gemacht."
"Ein Dokumentarspiel war nie geplant", sagt Christopher Roth, der vor etwa acht Jahren gemeinsam mit Jeanne Tremsal den Plan zu einem Film über die Muehl-Kommune fasste. "Man kann das eigentlich auch nicht wollen: diese Geschichte genau abbilden". Roths und Tremsals Version, in der Muehl nur "Otto" heißt und von dem eigentlich zu jungen und – im Gegensatz zum realen Vorbild – attraktiven Clemens Schick verkörpert wird, transportiert die Innenperspektive der Kommunarden. Sie bringt ihre Normalität, auch ihre Glücksmomente auf den Screen, ohne über die rigide Struktur der Gruppe und ihre Verblendung hinwegzutäuschen.
Hauptschauplatz ist der burgenländische Friedrichshof, der zwischen 1972 und 1990 tatsächlich im Besitz der "Aktionsanalytischen Organisation" um Otto Muehl war. Neben dem manipulativen wie unberechenbaren Otto spielen die Frauen der Führungsebene eine zentrale Rolle. Der Fokus verlagert sich immer wieder: Einerseits werden die Macht- und Ohnmachtverhältnisse in der Miniaturgesellschaft gezeigt, andererseits die Gefühlswelt der Jugendlichen betont – und die Geschichte einer Jugendrevolte angedeutet, die von unerträglichen Widersprüchen angetrieben wird. Jeanne verliebt sich in den 16-jährigen Jean. Zweierbeziehungen sind gegen die Regeln, und Jeannes heile Kommunenwelt – ein anderes Leben kennt sie ja nicht – kriegt erste Risse.
"Sex war erlaubt, Liebe verboten"
"Die Kids wuchsen in einer Welt auf, die gegenüber der unseren auf den Kopf gestellt war", sagt Roth. "Sex war erlaubt, Liebe verboten. Uns hat man dagegen doch immer gesagt: Warte mal mit dem Sex, aber verlieben darfst Du dich schon. In der Kommune wurde das genaue Gegenteil gepredigt. Außerdem wurde ihnen gesagt: Die Welt draußen ist böse. Die Kleinfamilie ist das Böse. So sind diese Leute aufgewachsen, in dem Bewusstsein, in der besten aller Welten zu leben und vor dieser schrecklichen Welt da draußen geschützt zu sein."
Aber niemand schützt die Jugendlichen vor dem selbsternannten Beschützer. Um Jeannes Verliebtsein zu sanktionieren, lässt Otto sie zunächst in seine Wohnräume abkommandieren, als Gefährtin seiner geistig behinderten Tochter Kiki (Rebecca Sickmüller). Jeanne scheint aber schon zu ahnen, dass sich Otto an sie heranmachen will. Er missbraucht sie, ein knapper und doch schockierender Moment im Film.
"Ich wollte eigentlich gar nicht mitspielen", erzählt Jeanne Tremsal, die sich aber doch selbst besetzte. "Ich konnte meine Mutter quasi beschützen, indem ich sie spielte. Ich wollte, dass man merkt, was für ein liebevoller Mensch sie war". Die Rolle ist klein, denn Jeannes Eltern, die nicht in Friedrichshof leben, kommen nur sporadisch zu Besuch. Jeannes Mutter steckt ihr heimlich Schokolade zu, denn auch Süßigkeiten sind verboten, und einen Zettel mit ihrer Telefonnummer, für alle Fälle. Ihre Mutter hatte wohl eine gewisse Ahnung, "aber sie war ein bisschen naiv", sagt Tremsal. "Sie ist umso mehr in ein Loch gefallen, als sie begriffen hat, was passiert war."
"Ich kann nicht überleben in dieser Welt"
Jeanne Tremsal berichtet auch von ihrer eigenen Krise nach dem Ende der Kommune. Mit 14 kam sie auf ein wirtschaftswissenschaftliches Gymnasium in München, "das war für mich die Hölle. Ich dachte, ich kann nicht überleben in dieser Welt", der Schwerpunkt in der Kommune habe schließlich bei Musik, Kunst und Theater gelegen. Zwei Regelschuljahre hielt Tremsal durch, dann erzählte ihr jemand von der Schauspielschule. "Ich wusste gar nicht, dass es sowas gibt".
Obwohl mit 16 eigentlich zu jung, wird sie am Münchner Schauspielstudio aufgenommen. Ihre Rettung. Ein Anschluss an das frühere Leben, gewissermaßen: "Es gab natürlich viele Parallelen zur Kommune, gottseidank nicht die schlimmen Sachen", sagt Tremsal. Fühlt sie sich heute gegen Übergriffe im Fernseh- und Theaterbetrieb gewappnet? "Ich habe schon gelernt, wie man mit solchen Leuten umgehen muss, vor allem mit Männern, die sich als totale Machtmenschen erweisen."
Regisseur, Künstler und Fernsehproduzent Christopher Roth erklärt, wie man Despotismus gewaltlos inszeniert. Die Therapie- und – wir nennen das mal so – Freilichttheaterszenen habe Roth am Stück mit zwei Kameras drehen lassen. "Wir haben nie gesagt: Stopp, ihr habt euch versprochen oder dies und jenes ist dazwischengekommen. Wir haben es laufenlassen. Das hatte auch den Vorteil, dass man zu dem Otto-Darsteller Clemens Schick sagen konnte: 'Du bist jetzt hier der Chef, Du bist der Dompteur, von Dir hängt alles ab'. Clemens kommt vom Theater, der kann das, dem muss man auch die Freiheit geben, die Rolle physisch auszuleben."
Entfesselte Darstellungskunst, ein Regisseur in Betrachterposition
Es gibt eine Art Rave-Szene im Film, bei der die gesamte Kommune wie in Trance anfängt zu tanzen. "Weil die zwei Kameras ja ständig drehten, musste ich mich in einem Heuwagen verstecken", erzählt der Regisseur. "Nach einer Viertelstunde habe ich 'Cut' gerufen, aber niemand hat darauf reagiert, die haben noch 20 Minuten weitergetanzt."
Entfesselte Darstellungskunst, ein Regisseur in Betrachterposition. Im Film taucht ein- zweimal ein rätselhafter kleiner Junge auf, der die Jugendlichen beobachtet (Jeanne: "Der nervt") und ein T-Shirt mit der Aufschrift "Bankhaus Roth" trägt. Steht der schweigende Knabe für den Filmemacher? "Weiß nicht", sagt Christopher Roth, "das Shirt hat die Kostümbildnerin gemacht. Ich fand das aber sehr lustig".
Mit Otto Muehl, dem Künstler kann Roth nicht viel anfangen. "Es ist ja auch schwer, Kunst im Film darzustellen. Einmal zeigen wir, wie er im Freien Farbe auf einen Keilrahmen wirft. Aber das Bild, das dabei entsteht, ist nicht zu sehen." Das sei natürlich eine bewusste Perspektive gewesen, erklärt Roth, der von sich selber sagt, er komme "viel mehr aus dem Konzeptuellen. Diese Materialschlachten sind überhaupt nicht mein Ding. Paul McCarthy hat, glaube ich, mal gesagt: 'Das, was Hermann Nitsch und Muehl mit Blut gemacht haben, habe ich mit Ketchup gemacht.' Und der Künstler mit dem Ketchup ist mir definitiv näher."
Wer Geld bringt, wird beklatscht
Während Jeanne in der zweiten Hälfte von "Servus Papa" dem Guru zunehmend ausgeliefert ist, wird ihr Schwarm Jean (Leo Altaras) in die Stadtkommune in Frankfurt verbannt. Er trägt jetzt Anzug und arbeitet in einem Immobilienbüro. Auch in der Eingangsszene in Friedrichshof spielt die kapitalistische Basis des Muehl-Unternehmens eine Rolle. Wer gutes Geld in die Kommune bringt, wird beklatscht und besungen, rückt in der Rangfolge nach oben.
"Muehl kam zwar aus dem Kreis der Wiener Aktionisten. Aber einer wie Peter Weibel hat schon ganz am Anfang gesagt: 'Der Muehl ist mir zu rechts.' Dieses hierarchische Denken hat Weibel schon früh erkannt. Die Kommune war dann kein linkes Projekt. Es gab eine Führungselite, das waren interessanterweise fast nur Frauen, beinahe ein Matriarchat. Über allem ein Boss, Otto Muehl, der die Untergebenen rausschickt, um Geld zu erwirtschaften, teilweise waren das ja richtige Betrugsgeschichten."
Das Ende der Kommune wird in einer Szene komprimiert, in der Ottos Frauen Tagebücher der Jugendlichen ins Feuer werfen. (Aus der Asche der tatsächlich vernichteten Beweismittel fertigte Muehl später seine "Aschebilder", was nicht nur Roth "unerträglich" findet.) "Papa" wird im nächtlichen Flammenschein von den revoltierenden Jugendlichen erstochen, neongrünes Blut spritzt aus Ottos Wunden – wohl nur eine Rachevision, denn in der taghellen Szene darauf lebt er wieder, wird von der Polizei mit Handschellen abgeführt.
Mehr Lust aufs Schreiben
So weit wie in seinem früheren Film "Baader" (2002), in dem der RAF-Terrorist Andreas Baader faktenklitternd, aber als Symbolbild doch gerechtfertigt einen Märtyrertod stirbt, geht Roth nicht. Aber bevor Otto ins Polizeiauto steigt, wird er von einem Beamten noch um ein Autogramm gebeten. Die Signatur des Sex-Kommunen-Königs, den man aus der "Kronen Zeitung" kennt, das ist doch was! Der Täter wird Popfigur – am Ende nur eine Befürchtung, die sich bei Muehl nicht bewahrheitet hat.
Ein schmales Grinsen hängt in Ottos Gesicht, ein letzter Blick zurück, dann steigt er in den Polizeiwagen. Zum Schlusstableau umarmen sich Jeanne und ihre Freunde. Die reale Jeanne Tremsal entschuldigt sich, die Zeit wird knapp, gleich geht der Vorhang zur Berliner Vorpremiere des Films auf. Eine letzte Frage noch, ob ihr erstes Drehbuch ihr Lust aufs Schreiben gemacht hat. "Unbedingt", entgegnet Tremsal. Sie schreibe gerade an einer Miniserie, zusammen mit Helene Hegemann (die übrigens eine kleine Rolle in "Servus Papa" hat). Die Serie spielt, verrät die Schauspielerin, in einem Restaurant. Also mittendrin im wahren Leben.