Live-Streaming ist ein Massenphänomen in China: Millionen schauen Menschen in Echtzeit bei bei ihrem Alltag zu, können per Direktnachricht interagieren und kleine Geldbeträge senden. Manche der hosts verdienen so ihren Lebensunterhalt, viele träumen vom Ruhm im Internet, andere wollen nur der Einsamkeit entfliehen: ein Tänzer, der nicht tanzen kann, eine Näherin, die in einer Fabrik Unterwäsche näht, Bauarbeiter und Straßenkünstler. Die Filmemacherin Shengze Zhu hat den Randfiguren der Video-Plattformen einen Film gewidmet. Dabei ist das Porträt einer Gesellschaft entstanden
Shengze Zhu, für ihren Dokumentarfilm "Present.Perfect" haben Sie Material von Live-Streaming-Plattformen in China zu einem zweistündigen Film zusammen geschnitten. Was waren Ihre Auswahlkriterien?
Ich habe nach starken Persönlichkeiten gesucht. In der Regel führen die Nutzer etwas für die Kamera auf, und man kann ihnen lange zusehen, ohne sie wirklich kennenzulernen. Mir ging es um die hosts, denn die meisten davon waren in nicht gerade idealen Lebenssituationen. Ich habe sie danach ausgewählt, wie viel sie von sich und ihrem Leben mit Fremden im Internet teilen wollten.
Live-Streaming ist ein riesiger Markt in China, oder?
Naja, nicht mehr. Vor ein paar Jahren, 2016, 2017, war das ein Hype. 2018, als ich mein Material gesammelt habe, war der vorbei.
Es gibt eine bestimmte Sprache auf diesen Plattformen: Die Kanäle heißen showrooms, die Betreiber der Accounts heißen anchors, es gibt bullets …
… das sind Nachrichten über die Kommentarfunktion. So interagiert das Publikum.
Die chinesische Regierung betreibt eine rigorose Zensurpolitik im Internet. Aber ist es nicht schwer, eine Live-Übertragung zu zensieren?
Anfangs wusste niemand, wie groß das wird, aber 2016 und 2017 traten die Gesetze dazu in Kraft. Es ist nicht so schwer, zu zensieren, denn jeder showroom hat einen Manager. Man kann verwarnt und schließlich gesperrt werden. Pornografie und Rassismus sind offensichtlich nicht erlaubt, aber man darf beispielsweise auch nicht rauchen, und Frauen ist es nicht erlaubt, in aufreizender Weise Bananen zu essen.
Bis zu 400 Millionen Menschen haben sich in China diese Live-Streams angesehen. Warum ist das so faszinierend?
Als ich angefangen habe, das zu schauen, dachte ich, die meisten anchors wären sehr jung und hätten es auf den Ruhm abgesehen. Aber das ist ein Klischee. Die Streamer haben alle unterschiedliche Hintergründe und unterschiedliche Erfahrungen. Es gibt viele ältere Leute, die niemanden zum Reden haben. Die Isolation hat die Protagonisten meines Films bewogen, die Kamera einzuschalten. Jüngere Leute sind vertraut mit dem Internet und wissen, wie man damit schnell und einfach Geld verdient. Aber das interessiert mich nicht, sondern eher die Frage: Gibt es Einsamkeit und Gemeinschaft im virtuellen Raum? Die Menschen in meinem Film sind wie Sie und ich. Sie suchen nach einer Verbindung und wollen gesehen werden.
Ich habe ja das Gefühl, dass die anchors ihre Lebensgeschichten vielleicht nur für sich selbst erzählen.
Vielleicht. Sie haben nicht viele Zuschauer, aber vielleicht scheint es auch nur so, denn im Film sind die Live-Kommentare der Zuschauer nicht zu sehen. Jeder hat doch die Sehnsucht, das Leben mit Anderen zu teilen.
Warum spielt eigentlich ein so großer Teil des Films an Arbeitsstätten?
Naja, diese Leute bekommen nicht viel Geld für ihr Streaming und müssen arbeiten. Es gibt vielleicht ein oder zwei in "Present.Perfect", die genug verdienen, um davon zu leben.
Ich musste noch oft an den 30-jährigen Mann in Ihrem Film denken, der eine Hormonstörung hat, und bei dem die Pubertät nie eingesetzt hat. Er erzählt, dass er lange nur zu Hause geblieben ist, bis er angefangen hat zu streamen und aus seinem Dorf weggezogen ist, um einen Job zu finden. Das klingt doch nach einem glücklichen Ausgang der Geschichte.
Das Streaming hat ihm sicher geholfen. Er hat sich im Internet verstanden gefühlt, ganz anders als in seinem Dorf. Aber dieser positive Einfluss ist fragil. Während der Arbeit an dem Film ist er einfach verschwunden.
Was ist passiert?
Keine Ahnung. Das wollten viele Zuschauer wissen, aber er antwortet nicht auf Nachrichten.
Sie haben über Ihr Interesse an starken Persönlichkeiten gesprochen. Haben Sie auch eine Lieblingsfigur in dem Film?
Ich mochte den jungen Mann mit missgebildeten Armen und Beinen. Er ist ein Straßenkünstler, der auf einem Gehsteig kalligrafiert. Seine Eltern sind entweder gestorben oder haben ihn verlassen, und seine Großeltern, die sich um ihn gekümmert haben, sind gestorben. Er spricht oft über Freundschaft, und sein Auftreten — er tanzt und singt für die Kamera — hat mich berührt.
"Present.Perfect" übt einen narrativen Sog aus. Das hätte ich nicht erwartet von einem Film, der ausschließlich aus gefundenem Material besteht, denn Sie haben ja nichts hinzugefügt.
Aha, es freut mich, dass Sie einen Handlungsbogen erkennen. Aber viele finden den Film herausfordernd, schließlich hat er keine Hauptfiguren. Ich wollte auch gar keinen Plot vorgeben, was ich in der Nachbearbeitung hätte tun können. Für mich zeigen die Leute einfach ihren Alltag, und die Geschichte ist sehr locker: Das Leben der anchors ändert sich nur wenig im Laufe der Zeit.
Was war Ihr Beitrag als Filmemacherin?
Ich will nur eine Welt schaffen, die allein dem Film gehört. Es geht weniger um die Geschichte als vielmehr um die Erfahrung. "Present.Perfect" ist in vier Kapitel unterteilt, sonst würde man sich zu schnell darin verlieren.
Sie hatten sicher eine Menge Ausgangsmaterial.
Ich habe 800 Stunden aufgenommen, aber wahrscheinlich mehr angesehen. Über einige Monate habe ich acht, zehn, bis zu 15 Stunden täglich mit den Streams verbracht.
Waren Sie fasziniert und konnten nicht aufhören oder mussten Sie sich dazu zwingen?
Das hat Spaß gemacht. Es war zeitaufwendig und ermüdend, aber mir war nie langweilig. Ich wollte auch nichts verpassen, denn die Streams werden nicht gespeichert. Was ich verpasse, ist für immer weg.
Haben Sie erwartet, dass es Spaß macht?
Ich war überrascht von den Shows. Manche davon sind ziemlich kreativ, obwohl meine Protagonisten wenig vom Filmemachen verstehen. Man lernt sie dabei kennen. Sie fühlen sich an wie Freunde.
Während der Arbeit an dem Projekt haben Sie in Chicago gelebt. Mussten Sie wegen der Zeitverschiebung lange aufbleiben, um die Shows zu sehen?
Ja. Aber während ich die Streams geschaut habe, hatte ich das Gefühl, dass die Distanz verschwindet. So eine Erfahrung hatte ich noch nie, auch nicht, wenn ich über Skype mit meinen Eltern oder Freunden spreche. Ich hatte das Gefühl, dabei zu sein, egal wo ich bin.
Sie haben gesagt, dass die Sendungen nirgends gespeichert werden. Aber Sie machen jetzt etwas Paradoxes: Sie verwandeln dieses ephemere Medium in einen Film.
Das finde ich nicht paradox. Denn genau das macht man in einem Dokumentarfilm: den flüchtigen Moment einfangen. Filmemachen ist ein Weg, die ephemeren Aspekte des Lebens ins Gedächtnis, in ein Archiv zu überführen. Ich musste bloß erst das Live-Streaming verstehen. Anders als ich dachte, ist das alles nämlich nicht einfach vorgefundenes Material, weil die Geschehnisse in Echtzeit passieren. Nicht wie bei Youtube, zum Beispiel. Wenn ich das Material noch irgendwo anders finden könnte, hätte ich den Film nicht machen müssen.
"Present.Perfect" ist Shengze Zhus dritter Langfilm. Gemeinsam mit der Künstlerin Zhengfan Yang gründete die 1987 geborene Filmemacherin die Produktionsfirma Burn the Film. Zhus zweiter Film "Another Year" bekam unter anderem den Preis für den besten Film beim Festival Vision du Réel in der Schweiz sowie den großen Preis beim Montreal International Documentary Festival. "Present.Perfect" wurde mit dem Tiger Award beim Internationalen Filmfestival in Rotterdam ausgezeichnet. Zhu lebt und arbeitet derzeit in Chicago.