Oscar-Kandidat "Die Kinder des Kalifats"

"Es gibt keinen Unterschied zwischen der Hitler-Jugend und Dschihadisten"

Wie wird aus einem Muslim ein Dschihadist? Der Regisseur Talal Derki beantwortet diese Frage in einem oscarnominierten Dokumentarfilm. Ein Gespräch über die Macht der Väter und die Ohnmacht der Politik

Ein Studio in Berlin-Friedrichshain. Es ist der Sitz der Firma Berlin Basis. Zusammen mit dem rbb hat sie einen Dokumentarfilm produziert, der am 24. Februar ins Rennen um die Oscars in Los Angeles geht – als zweiter deutscher Beitrag neben dem Spielfilm "Werk ohne Autor" und als einziger europäischer Dokumentarfilm. "Von Vätern und Söhnen" erzählt die Geschichte einer politischen Radikalisierung, ebenso schnörkel- und schonungslos. Zwei Jahre lang hat Talal Derki einen Al-Kaida-Kämpfer in der syrischen Provinz Idlib dabei beobachtet, wie er seine Söhne zu Gotteskriegern erzieht. Derki, 40, ist ein schmaler, fast zartgliedriger Mann. Er trägt ein Hemd im Tarnfarben-Look und bewegt sich sich so unauffällig, als befinde er sich immer noch im Kriegsgebiet. Dabei lebt er schon seit 2013 in Berlin. Wo, will er nicht sagen. Safety first. Seit sein Film einen Preis nach dem anderen abräumt, steht er auf der schwarzen Liste der Dschihadisten. 

Herr Derki, in Ihrem Dokumentarfilm "Of Fathers and Sons – Die Kinder des Kalifats" sagt der 13-jährige Sohn zu seinem Vater, einem Al-Kaida-Kämpfer: "Ich hab den kleinen Vogel geschlachtet – so wie Du einem Mann den Kopf abgeschlagen hast, Papa". Was verrät diese Szene über die Werte, mit denen Söhne von Dschihadisten aufwachsen?
Sie wollen so sein wie ihre Väter. Deshalb eifern sie ihnen nach. Ihre Väter sind ihre Vorbilder, ihre Helden. Diese Szene verrät etwas über die Legitimität von Gewalt und die Ideologie, die dahinter steht. 

Dass Kinder Tiere misshandeln, ist nicht so ungewöhnlich. 
Nein, so etwas passiert überall. Aber hier ist es in gewisser Weise organisiert. Der Vater hat einem anderen Mann den Kopf abgeschnitten, weil der nicht an die Scharia glaubt. Er vermittelt seinem Sohn die Überzeugung, dass ihr Gott die Welt nur für die Gläubigen geschaffen hat. Und dass es deswegen sein gutes Recht sei, Ungläubige zu töten.  

Ist das der Schlüssel zu Ihrem Film? 
Ich würde sagen: Er gibt die Richtung vor. Der Zuschauer erfährt, in welcher Welt dieser Film spielt. Und er lernt, welche Rolle Erziehung darin spielt. Für Dschihadisten ist das Leben nur eine Brücke in eine bessere Welt. Es ist ihnen schlicht und einfach egal. Der Tod ist in ihren Augen kein Verlust. Bomben auf sie zu werfen, erschreckt sie nicht. Es macht sie nur noch stärker.  

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, den Dschihadismus zum Thema eines Films zu machen? 
Ich verfolge den Aufstieg dschihadister Gruppen schon seit geraumer Zeit mit Sorge – nicht nur in Syrien. Solche Bewegungen können überall dort entstehen, wo Chaos oder Krieg herrscht. Wo Menschen es schwer haben, ihren eigenen Platz zu finden. Die Dschihadisten reden der Bevölkerung ein, sie würden sie beschützen. Sie betreiben Propaganda. Sie verstehen es, Menschen zu brain-washen.  

Warum haben Sie das Verhältnis eines Dschihadisten zu seinen Söhnen zum Dreh-und Angelpunkt Ihres Films gemacht? 
Ich bin selbst Vater eines sechsjährigen Sohnes. Und als ich meinen letzten Film "Rückkehr nach Homs" gedreht habe, habe ich einen Vater kennengelernt, der seinem Sohn beibrachte, wie man mit Waffen umgeht und Menschen tötet. Ich war so schockiert, dass ich beschloss, einen eigenen Film darüber zu drehen. 

Ihre Hauptfigur ist Abu Osama, ein Al-Kaida-Kämpfer aus der syrischen Provinz Idlib. Wie haben Sie ihn gefunden?  
Das war gar nicht so leicht. Ich habe Camps abgeklappert, in denen Al-Kaida-Gruppen ihren Nachwuchs für den Krieg schulen. Einer der Ausbilder hat mich zu Abu Osama gebracht, und als ich ihn das erste Mal sah, wusste ich gleich: Das ist mein Mann. 

Warum? 
Er ist charismatisch, mit diesem großen Kopf und dem langen Bart, aber er entspricht nicht dem Klischee eines Dschihadisten. Er hat dieses Lächeln, und man merkt, dass er seine Kinder von ganzem Herzen liebt. Und dann sind da seine Augen. In denen flackert der Wahnsinn. Dieser Mann ist vollkommen aus der Zeit gefallen. Wenn er den bevorstehenden Weltuntergang beschwört, denkst du, der hat vor 1.500 Jahren gelebt. 

Jetzt ist der Film für einen Oscar nominiert. Menschen auf der ganzen Welt erleben den liebenden Vater als Diktator und Killer. Haben Sie gar keine Gewissensbisse?
Nein, das Wort Schuld hat hier nichts zu suchen. Ich habe Abu Osama im Film ja nicht kritisiert. Er entlarvt sich selbst und den ganzen Wahnsinn dieser Ideologie. 

Aber Sie haben ihn dazu gebracht. Müssen Sie sich jetzt vor Rache-Akten der Dschihadisten fürchten?
Ich hatte keine andere Wahl. Sehen Sie, ich lebe seit  2013 mit meiner Familie in Berlin. Ich bin hier gestrandet, weil hier die Firma sitzt, die meinen letzten Dokumentarfilm produziert hat. Mein Sohn geht hier zur Schule. Die Stadt ist zu meiner zweiten Heimat geworden. Ich könnte sagen: Mir geht es hier gut. Ich lebe in Frieden. Mir doch egal, was in Syrien passiert. Dass Afrin, die Heimatstadt meiner Familie, seit zwei Jahren von Dschihadisten terrorisiert wird. Dass Baschar al-Assad wegen dieser Leute überhaupt nur noch an der Macht ist. Dass sich die Gesellschaft immer weiter radikalisiert. Ich habe das Gegenteil getan. 

Sie haben wirklich keine Angst vor den Gotteskriegern?
Ich hatte schon keine Angst vor ihnen, als ich den Film gedreht habe. Jeder Tag war ein Adrenalin-Test. Die Gefahr drohte nicht nur von Abu Osama. Er wurde ja auch von anderen Dschihadisten verfolgt. Und das  Terrain war vermint. Wenn ich einen Fehler gemacht hätte, hätte mich das den Kopf kosten können. 

Bekommen Sie keine Morddrohungen, jetzt, da der Film für einen Oscar nominiert wurde?
Doch, aber nur im Internet. Ich nehme solche Drohungen aber nicht ernst. Die wirklich gefährlichen Leute schicken keine Morddrohungen per Email. Die handeln. 

Sie meinen: Diese Leute morden?
Es würde keinen Sinn machen, mich jetzt zu töten, wo der Film raus ist. Das hätte ja zur Folge, dass alle Leute diesen Film sehen würden wollen. Und der ist ja nun mal keine gute Werbung für sie. Dieser Film erzählt nicht nur vom Dschihad – es geht darin auch um Radikalisierung. Und darum, wie eine Ideologie von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Wussten Sie, dass der IS in Libyen innerhalb von einer Woche eine Armee aufgebaut hat?  

Sie wollen damit sagen, das Kalifat kann auch überall anders entstehen?
Jederzeit – solange wir das System und die Erziehung nicht ändern und die Verletzung der Menschenrechte ignorieren. Mein Film ist ein Appell an die Vereinten Nationen, die Rechte der Kinder und Frauen in den betroffenen Ländern zu stärken. Religion gehört nicht in die Schulen. 

Abu Osama ist gläubiger Moslem, er kann den Koran seitenweise auswendig. Was hat ihn zum Gotteskrieger gemacht? 
Er war immer das Problemkind in der Familie. Als Jugendlicher fing er plötzlich an, sich für den Kampf der Taliban zu interessieren. Mit 18 Jahren fand er den Weg zu Al Kaida. 2008 kam er ins Gefängnis. Man warf ihm vor, er hätte in Damaskus einen Bombenanschlag auf den Geheimdienst verübt. 

Wo hört der Glaube auf, wo fängt der Fanatismus an? 
Da gibt es keine Grenze. Das eine hängt mit dem anderen zusammen. 

Aber nicht jeder Muslim ist ein Gewalttäter. 
Aber wenn Du diese Gewalt schon in deiner Kindheit erlebst, ist es in deinem Kopf drin. Und du kriegst es nicht mehr so leicht heraus.  

Das Muster ist immer dasselbe?
Genau, es geht um Radikalisierung. Das ist das eigentliche Thema meines Films. Ob sich eine Nation radikalisiert oder eine Religion, das macht keinen Unterschied. Das Ziel ist in beiden Fällen die Weltherrschaft. 

In Ihrem Film gibt es einen Moment, in dem die Söhne vor ihrem Vater zurückweichen. Da kommt Abu Osama mit Krücken nach Hause – eine Mine hat ihm ein Bein zerfetzt. Warum hat ihnen das nicht die Augen für die Schrecken des Krieges geöffnet?
Der Unfall hat sie noch enger zusammengeschweißt. Der Vater ist jetzt praktisch der Rentner in der Familie. Sie fühlen sich dafür verantwortlich, seine Rolle zu übernehmen.  

Warum sieht man in dem ganzen Film nicht eine einzige Frau?
Das ist der normale Alltag. So behandeln die Salafisten ihre Frauen. Die dürfen nicht mit Fremden sprechen oder vor der Kamera erscheinen. Ich hatte Abu Osama gebeten, ein Interview mit einer seiner beiden Frauen zu führen. Er hat das abgelehnt. 

In Deutschland übernehmen die Frauen eine immer wichtigere Rolle in der salafistischen Szene. Fürchten Sie nicht, dass Ihr Film sämtliche Vorurteile gegen Muslime befördert? 
Wenn Sie einen Film über Nazis in Deutschland drehen würden, müssten Sie dann nicht auch Angst haben, dass der Film den Eindruck erweckt, alle Deutschen seien Nazis? In den Augen vieler Deutscher sind alle Syrer Flüchtlinge – und sie werden es auch noch in hundert Jahren sein. Das Problem in Europa ist, dass die Menschen gerne verallgemeinern. Aus solchen Vorurteilen entsteht Krieg. 

Auch in Deutschland ist es erst rund 80 Jahre her, dass die Hitler-Jugend zu Kriegern erzogen wurde. Wo ist der Unterschied zum Dschihadismus? 
Da gibt es keinen. Jeder hat sein eigenes Motiv, andere umzubringen. Jeder glaubt, er sei der richtige, um andere zu unterwerfen. Jeder hat seine eigene Ideologie. Und sie alle benutzen Kinder. Es ist immer leichter, ein Kind zu überzeugen als einen Erwachsenen. 

Hat es Sie überrascht, dass Ihr Film jetzt in den USA für einen Oscar nominiert wurde?
Nein, gar nicht. Mein Film gibt eine Antwort auf die Frage, wie Extremismus entsteht. Und das ist im Augenblick DAS beherrschende Thema. Es ist der einzige europäische Dokumentarfilm, der im Wettbewerb startet. Er ist den Arschlöchern dieser Welt gewidmet. Ich bin mir sicher, wir gewinnen den Oscar. 

Hat ihn Abu Osama schon gesehen?
Nein, er wurde im vergangenen Oktober bei einem Bomben-Attentat getötet. 

Was ist passiert?
Nachdem sich die Al-Nusra Gruppe von Al Kaida getrennt hatte, hat er mit anderen Dschihadisten eine neue Gruppe gegründet: The Guardian of the religion. Die Al-Nusra Gruppe hat ihn getötet. Seine Mörder haben mir übrigens eine versteckte Drohung geschickt. Sie hätten von meinem Film erfahren. Abu Osama werde durch diesen Film noch richtig berühmt.