Psychologe Tilmann Moser über Malerei und Seele

"Familie ist in der Kunst eine Herausforderung"

Herr Moser, Sie sind Psychoanalytiker und beschäftigen sich mit den Spätfolgen von NS-Zeit und Krieg. Wie sind Sie zur Kunst gekommen?
Ich bin immer gern in Museen gegangen. Vor allem die Museumslandschaft in Berlin hat mich während meines Studiums inspiriert.

Gab es da ein Schlüsselerlebnis?

Picasso ist eine Schlüsselfigur für mich. Zu meiner Schulzeit gab es viel Kritik an seinem Werk. Viele sagten, das sei keine Kunst. Ich habe mir die Werke irgendwann genauer angesehen und mich selbst darin entdeckt. Später kam auch szenische Malerei hinzu, die ich in Italien sah. Ich merkte, dass sie mich psychologisch interessiert.

Worin besteht der Zusammenhang zwischen der Seele und der Malerei?

Ich denke, dass Künstler, die szenisch malen, auf dem Gebiet genauso sensibel sind wie Psychoanalytiker. Ich würde sogar sagen, dass sie mit ihrer Malerei eine Form von Affektforschung betreiben.

Ist es also möglich, von den Bildern auf die Psyche der Künstler zu schließen?

Eine Verlockung ist es auf jeden Fall. Ich denke, dass vieles gar nicht zu verstehen ist, wenn man nicht die Psyche des Künstlers berücksichtigt. Meiner Meinung nach ist beides wichtig: der reine Umgang mit dem Kunstwerk, aber auch die Berücksichtigung der Persönlichkeit des Künstlers. Pathologisiert werden sollte er allerdings nicht.

Was bedeutet Familie?

In der Kunst ist sie eine große Herausforderung. In vielen Bildern wird sichtbar, wie sehr sich die Künstler mit ihrer Familie auseinandergesetzt haben. Das kann sehr unterschiedlich sein. Manche Bilder sind geradezu eine Heroisierung der Familie, andere sind eher nüchtern und distanziert.

Wie hat sich die Darstellung der Familie über die Jahrhunderte geändert?

Schon im Mittelalter gab es in der Darstellung der Familie eine enorme Bandbreite, von heroisierend bis theologisch-abstrakt. Und wenn zum Beispiel Max Beckmann Adam und Eva darstellt, schwingt in dem Bild die Armut der 20er-Jahre mit, in der der Künstler gelebt hat. Die Künstler werden psychologisch immer klüger und nehmen ab dem 19. Jahrhundert eine Forscherhaltung ein.

In Ihrem Buch weisen Sie auf Situationen aus Therapiesitzungen hin, die sich in den Bildern wiederfinden, obwohl die Entstehung einiger Werke schon mehr als hundert Jahre zurückliegt. Hat sich das Grundmodell der Familie also nicht geändert?

Doch, sogar massiv. Politisch, soziologisch, aber auch in der Rezeption der Malerei. Anfangs stand mehr die Großfamilie im Vordergrund, die sich mehr und mehr hin zur Paardarstellung gewandelt hat. Vielleicht mit einem oder zwei Kindern. Wenn ich durch das Museum laufe, ist es, als würde ich das, was mir meine Patienten erzählen, bebildert vor mir sehen.

Kann man Malerei als Befreiung der Seele sehen?

Nicht direkt. Die Malerei bildet eher ab und erforscht. Ob sie dadurch schon Befreiung schafft, bezweifele ich. Man könnte es vielleicht als Befreiung zur Wahrheit bezeichnen, denn durch den Forschungsprozess, den der Künstler durchmacht, hat er ein bisschen Wahrheit ans Licht gebracht.

Haben Sie als Psychoanalytiker den Wunsch, mit den Künstlern über das zu sprechen, was sie gemalt haben?
Das wäre wunderschön, aber ich bin sehr zurückhaltend. Ich hatte zwei sehr ergiebige Gespräche mit Künstlern über ihre Werke. Einer war sogar verärgert, weil er nicht wollte, dass ich versuche, Rückschlüsse auf seine Psyche durch die Bilder zu ziehen. Ich habe wenig Kontakt mit Künstlern.

Sie haben sich stark mit Gott auseinandergesetzt. Spielt er in Ihren Augen auch in den Familienporträts eine Rolle?
In den frühen auf jeden Fall, denn dort ist meistens die Heilige Familie abgebildet. Auch in den Werken der Romantik sind religiöse Bezüge zu erkennen. Vor allem bei Caspar David Friedrich. Die religiöse Aura, die seine Landschaftsbilder ausstrahlen. Natürlich kommen auch Kreuze in den Bildern vor, die man mit Religion in Verbindung setzen muss. Aber auch ohne sind sie sehr religiös in ihrer Wirkung.

Häufig lassen Sie in Ihren Büchern auch Patienten zu Wort kommen.

Ich habe in meiner Praxis viele Bilder hängen. Von Künstlern, aber auch von Patienten. Manchmal lasse ich die Patienten etwas zu den Bildern erzählen. Sie kommen dadurch dann mit dem Werk ins Gespräch und ich mit ihnen.

Welche Bedeutung hat also Kunst aus psychoanalytischer Sicht?

Kunst öffnet die Tür zur Seele eines Menschen und ist aus der psychoanalytischen Therapie nicht mehr wegzudenken.

Tilmann Moser "Kunst und Psyche. Familienbeziehungen", Belser Verlag, 128 Seiten, 24,95 Euro