Dass wir in einem ewigen Kreislauf leben und alles irgendwann in neuer Form wiederkehrt, ist sowohl eine Grundüberzeugung verschiedener Religionen als auch ein Gesetz der Modeindustrie. Aber dieses Jeans-Ei, das da von Lichtblitzen durchzuckt auf der Bühne der schwedischen Malmö Arena steht, das ist dann doch ein bisschen viel. Es sieht aus wie eine unwahrscheinliche Reinkarnation des Denim-Partnerlook-Ensembles, das Britney Spears und ihr damaliger Freund Justin Timberlake 2001 auf dem roten Teppich der American Music Awards trugen. Aus dem Patchwork-Ei in verschiedenen Blautönen schlüpft nun tatsächlich neues Leben. Oder genauer gesagt: der finnische Teilnehmer des diesjährigen Eurovision Song Contest, Teemu Keisteri alias Windows95man.
Das Land aus dem hohen Norden hat schon öfter mit einigermaßen skurrilen ESC-Beiträgen für Aufsehen gesorgt. 2006 gewann die Heavy-Metal-Band Lordi den internationalen Musikwettbewerb mit Monstermasken, Gitarrengewitter und "Hard Rock Hallelujah". Im vergangenen Jahr landete der Rapper Käärijä mit der Stampftechno-Aerobic-Nummer "Cha cha cha" und knappem, giftgrünen Bolero-Jäckchen auf dem zweiten Platz.
Nun schicken die Finnen also Windows95man ins Rennen. Zusammen mit dem Sänger Henri Piispanen performt dieser die Eurodance-Nummer "No Rules", die irgendwo zwischen Scooter und Ace of Base herumzappelt. Dabei trägt Teemu Keisteri Bürstenschnauzbart zu goldener Lockenperücke, eine klassische Tennissocken-Sandalen-Kombi und ein bauchfreies T-Shirt mit Windows95-Logo (weil beim ESC keine Markenwerbung erlaubt ist, musste das Motiv für den Malmö-Auftritt verwischt werden). Untenrum ist er zuerst nur mit einem Slip im Nude-Ton bekleidet, später werden ihm dann aus dem Bühnenhimmel abgeschnittene Jeans-Hotpants gereicht, aus denen praktischerweise gleich Funken sprühen.
"Ich möchte die Finnen ein wenig aufrütteln"
Dass dabei auch ein Feuerwerk aus Codes und Referenzen, ironischer Brechung und ehrlicher Nostalgie abgebrannt wird, das einem schonmal das Gehirn explodieren lassen kann, dürfte dem Windows-Mann bewusst sein. Denn neben DJ und nationalem Hoffnungsträger ist Keisteri auch bildender Künstler. 1985 wurde er in Espoo in der Metropolregion Helsinki geboren - also genau zehn Jahre, bevor das PC-Betriebssystem auf den Markt kam, das ihm heute seinen Namen gibt. Keisteri studierte am LAB Institute of Design and Fine Arts in Lahti und hat sich auch als Maler in Finnland eine gewisse Bekanntheit erarbeitet.
Seine comichafte Bildsprache erinnert ein wenig an Keith Haring und die "Simpsons," beliebte Motive sind zum Beispiel gelbe Hintern und die Figurenserie "Ukkeli", die es auch auf Tassen, Taschen und T-Shirts gedruckt gibt. In seinen Videoarbeiten ist er meist seine eigene, sympathisch vertrottelte Hauptfigur. Im Werk "One Man And Country Skiing" sieht man ihn, ganz gemäß dem Titel, auf Langlaufskiern einen Berg hinaufstapfen. Allerdings trägt er dabei nichts außer den Sportgeräten an seinen Füßen, sodass man sich etwas Sorgen über eine drohende Unterkühlung macht. Auch mit seinem Kunstraum Kalleria im Helsinkier Hipster-Stadtteil Kallio verbindet er ernsthaftes Interesse an einem künstlerischen Off-Space mit Anarcho-Humor und unerschrockener Trash-Ästhetik.
Keisteri bezeichnet sich selbst als "Entertainment artist", der die etwas ausgelatschten Slogans "Why not?" und "No rules" als Lebensmotto ernst nehmen will. "Mein Ziel ist es, die Menschen glücklich zu machen", sagt er. "Die Finnen sind introvertiert und streng - ich möchte sie ein wenig aufrütteln". Am besten gelingt ihm das ganz offenbar als sein Alter Ego Windows95man, das eigentlich als DJ geboren wurde. Mit den Hits der 1990er- und frühen 2000er-Jahre bringt er ganze Stadien voller kühler Finnen zum Ausflippen. Unterstützt wird er dabei unter anderem von einer tanzenden Büroklammer - dem früheren Hilfe-Icon in Word-Dokumenten.
Ganz Helsinki als Denim-Ei?
In finnischen Feuilletons wird inzwischen darüber philosophiert, ob Teemu Keisteri ein Genie ist, das mit seinem Rückgriff auf die Pixel-Ästhetik der vergangenen Jahrzehnte eine Sehnsucht nach Einfachheit und einem aufgeräumten inneren Desktop auf den Punkt bringt. Außerdem fragt man sich, ob das letztlich eher harmlose Lied "No Rules" in seiner Berechenbarkeit nicht eigentlich genau das Gegenteil seines Titels aussagt: dass es eben doch Regeln und Konventionen braucht, um Spaß zu haben, ohne einander weh zu tun. Schaut man aus der Perspektive der bildenden Kunst auf das Phänomen, drängt sich noch eine andere Frage auf. Muss ein Maler und Performance Artist also Funken aus seiner sehr kurzen Hose sprühen lassen, um sein Nischenpublikum gegen Millionen Zuschauer rund um den Globus einzutauschen? Ist das begeisterungsfähige Eurovision-Publikum das Gegenteil der naserümpfenden Kunst-Elite?
Der ESC ist in Finnland eine mit Nationalstolz bestäubte Angelegenheit, die in ihrer Verschrobenheit sehr ernst genommen wird. Als Käärijä letztes Jahr fast den Sieg nach Hause holte, wurden zwei Fassadenfiguren am Hauptbahnhof in Helsinki mit den passenden grünen Bolero-Jäckchen ausgestattet. Man will sich gar nicht vorstellen, was passiert, falls Windows95man gewinnen sollte. Vor dem Finale am Samstagabend steht der Beitrag bei den Buchmachern zwar nur auf Platz zehn, aber man weiß ja nie, denn: "No rules". Vielleicht wird bei einem finnischen Sieg dann einfach die ganze Hauptstadt in Denim verkleidet.