Ersan Mondtag, was ist für Sie zuerst da: Text oder Raum?
Ich denke immer von den Räumen aus, zu denen ich dann Stücke entwickle. Kürzlich habe ich in Weißensee ein Seminar zu dem Thema "Bühne und Kostüm als Autorschaft" gegeben. Dort habe ich zu den Studierenden gesagt, dass sie sich statt einen Stoff erst mal einen Raum suchen sollen. Das kann eine Straße sein, ein Theatergebäude oder ein Flughafen. Von dem Raum ausgehend sollten sie ein Stück entwickeln. Wenn der Vorhang aufgeht, sieht man das Bühnen- und Kostümbild noch bevor man die Schauspieler und Schauspielerinnen sprechen hört. Das ist ein sehr visueller Vorgang. Ich bin ein Bühnenbildner, der seine Räume inszeniert, kein Regisseur, der auch noch das Bühnenbild macht.
Hat sich Ihr Blick auf alltägliche Räume, zum Beispiel das Café, in dem wir gerade sitzen oder die Straße gegenüber, durch Ihre Arbeit als Bühnenbildner verändert?
Meine Räume entstehen aus fantastischen Vorstellungen heraus. Ich baue keine Räume, die real sind. Ich entwickle architektonischer Räume, gerade interessiert mich der Brutalismus sehr. Für "Salome" von Oscar Wilde, einer Strauß-Oper, habe einen Raum gebaut, der sich dreht. Ich arbeite mit bestehenden Elementen, kreiere aber einen fantastischen Raum. Innen sieht es aus wie ein belarussischer Palast, dazu kommen aber christliche gefärbte Skulpturen in Überdimensionierung, umrahmt von einem brutalistischen Palast. Aus all diesen verschiedenen Formen entsteht etwas anderes, behauptet, eine Sandburg zu sein. In Wahrheit ist alles aus Holz gebaut. Ein Imitationsraum.
Ihre Räume sind also nicht an real existierende Orte angelehnt?
Ich muss nicht ins Theater gehen, um dort eine Bühne zu finden, auf der alles aussieht wie auf der Straße. Mit Realismus kann ich wenig anfangen, ich gehe nicht ins Theater, damit dort mein Alltag verhandelt wird, sondern um von meinem Alltag beraubt zu werden. Die Welt ist hässlich genug. Warum soll ich mir das noch auf der Bühne anschauen? Dafür habe ich kein Verständnis.
Sind Sie handwerklich versiert?
Mittlerweile schon. Dass Ideen in ein Modell überführt werden, ist eigentlich der schwierigste Schritt von allem. Am Theater gelten andere Regeln als in der bildenden Kunst. Während man dort oft mit echten Materialien arbeitet, imitiert man sie am Theater. Was man auf der Bühne sieht, sind keine echten Metalle oder Steinwände, sondern bemaltes Holz. Das ist ein ganz anderer Vorgang, für den es spezielles Handwerk gibt.
Wie verändert diese Imitation den Gestaltungsprozess?
Bühnenbilder sind für die Distanz gemacht. Wenn man einen ägyptischen Tempel mit einer acht Meter hohen Skulptur auf die Bühne bringen will, kann man das mit echten Materialien gar nicht umsetzen. Dafür müsste man schwere Räume bauen. Das Theater imitiert in alle Richtungen: Man imitiert Charaktere, Leben, Mode, Kunst und Architektur. In der Imitation entsteht ein dritter Weg und neue Kunstformen, im besten Fall.
In Ihren Arbeiten beziehen Sie sich immer wieder auf diese bestehenden Kunstformen, etwa den Expressionismus.
Expressionismus hat mich schon immer interessiert. In der Malerei ist diese Kunstform für die zweidimensionale Betrachtung gemacht. Wenn man sie in die Dreidimensionalität überführt und daraus Kostüme oder Bühnenbilder macht, mit Licht, Text und Musik arbeitet und sich plötzlich alles bewegt, ist das kein Expressionismus mehr. Dafür entsteht eine neue Kunstform. Die Imitation und die Transformation der Formen in Bewegung wird zu etwas Eigenständigem.
Was ziehen Sie aus vergangenen künstlerischen Strömungen?
Was mich gerade interessiert, entsteht aus der Betrachtung einer Gegenwart. Der Expressionismus entstand vor dem Ersten Weltkrieg, einer Zeit voller Umbrüche, der post-industriellen Revolution, aufkeimenden Konflikten und Faschismus. Das alles ähnelt unserer Gegenwart, der Expressionismus ist ein Bezugspunkt. Auch in der Malerei beobachte ich, dass wieder viel expressiver und figurativer gemalt wird.
Beobachten Sie im Kostümbild Trends, wie es sie auch in der Modeindustrie gibt?
Seit fährt ungefähr zehn Jahren kommt wieder viel mehr Farbe und Form in die Kostüme. Große Perücken, rote Butten, bemalte Gesichter, breite Schulterpolster. Diese schwarze, minimalistische Kostüm-Phase ist vorbei, mittlerweile wird sie sogar verpönt. Bei Zara schwarze Zweiteiler zu kaufen und auf die Bühne zu packen ist kein Kostümbild.
Beeinflussen Strömungen in Kostümen die Fashionwelt oder andersherum?
Aktuelle Kollektionen werden viel formaler. Ich glaube, dass das auch vom Theater inspiriert ist. Viele Modedesigner und -designerinnen sitzen bei mir in der Oper, man unterschätzt, welchen Einfluss das Theater hat! Gerade bricht in der Mode eine bunte Zeit an, mit vielen unterschiedlichen Texturen und oder simulierter Nacktheit.
Sie arbeiten in Belgien, Italien und Deutschland. Unterscheiden sich Ihre Kostüm- und Bühnenbilder von Land zu Land?
Ich achte darauf, dass meine Arbeit mit der lokalen Kunstentwicklung und der Sehgewohnheiten des Publikums korrespondiert, damit es nicht beliebig wird. In Italien ist es zum Beispiel wichtig, dass die Räume und Kostümbilder schön aussehen. Alles hat einen ästhetischen Wert, selbst wenn man Hässlichkeit darstellt. An der Deutschen Oper habe ich den Sängerinnen und Sängern Masken aufgesetzt und von Miriam Cahn inspirierte Fatsuits angezogen. Das wäre so in Italien glaube ich nicht möglich gewesen.
Bühnen- und Kostümbildner sind in der Regel viel unbekannter als Schauspielerinnen und Regisseure und erhalten weniger Anerkennung. Warum ist das so?
Das Kostümbild ist das am schlechtesten bezahlte Gewerk am Theater. Kostümbildnerinnen verdienen ein Drittel weniger als Bühnenbildner, obwohl der Arbeitsaufwand bei Kostümen viel größer ist. Ich habe mich mal mit einem Intendanten über die Bezahlung unterhalten, der sagte: "Es ist ganz simpel. Die meisten Kostümbilder werden von Frauen gemacht, die Bühnen von Männern." Dahinter steckt natürlich enormer Sexismus, der sich im Gehalt, der Hierarchie und der öffentlichen Wahrnehmung zeigt. Das ist schon sehr ärgerlich.
Wie beeinflusst die Politisierung von Kunst ihre Arbeit?
Im Theater sollte man über die Welt nachdenken können. Aber wenn man beginnt, diese Räume einzuschränken, weil man bestimmte Dinge nicht zeigen oder sagen soll, finde ich das problematisch. Es geht darum, sich in diesem Raum auszuprobieren und sich und das Publikum zu entblößen. Kunst sollte niemals eine politische Agenda verwirklichen.
Wie meinen Sie das?
Ich bin erst einmal Künstler, kein Politiker. Ich suche die Konfrontation, den Grenzbereich, die Verletzung. Aber dabei kann ich nicht nur von meiner eigenen Verletzung ausgehen, sonst ist man extrem eingeschränkt. Ich bin selbst homosexuell, meine Mutter ist Putzfrau, habe Rassismus erfahren und sexuelle Gewalt. Ich habe diese Merkmale in meinen Erinnerungen, aber ich will nicht in diesen Kategorien denken und arbeiten, oder rezipiert werden.
Zum Ende: Wie erzählt man Geschichten über Kostüm und Bühne?
Ich mache oft Stücke, in denen es keinen Text gibt. Bei "Tyrannis" zum Beispiel lief alles über Suggestion. Man beobachtete dabei eine Familie, die in einem Haus im Wald lebt, Angst vor der Handlung des anderen hat. Nachts erscheinen seltsame Schatten und Geräusche. Am Anfang der Stückentwicklung war nur das Bühnen- und Kostümbild, und darin haben wir angefangen zu arbeiten. Das ist wie ein Spielplatz, und aus dem infantilen Spaß am Spiel entsteht dann im schönsten Fall etwas Unbegreifliches.