Der Sommer ist nicht mehr das, was er einmal war. So strahlend und harmlos die Sonne auch scheinen mag, sie lässt uns misstrauisch werden. Es wird immer schwieriger, hinter den unbeschwerten Sommertagen nicht auch schon drohende (Natur-)Katastrophen zu wittern. Fast täglich bestätigt sich diese Skepsis in den Nachrichten: Waldbrände, wegen denen Touristen ihre Ferien in Notunterkünften verbringen müssen, oder Eisschollen, die im Hochsommer durch Italien schwimmen.
Hinzu kommt: Selbst wer ziemlich gut darin ist, solche Informationen zu verdrängen oder zu leugnen – einen schönen Urlaub kann sich ja doch kaum noch jemand leisten. Für jeden Fünften in Deutschland liegt eine Woche Verreisen über dem Budget. Bei persönlichen Erinnerungen ist für gewöhnlich Zweifel geboten, doch fraglos hat der Sommer seine Unschuld verloren. Vom "Sommerloch" (wir wussten es einfach nicht zu schätzen!) kann daher ebenfalls keine Rede mehr sein. Vielmehr ist der Sommer zum Steinbruch für allerlei kulturkämpferische Diskurse geworden.
Diesem Thema hat sich nun eine auf den ersten Blick kleine, auf den zweiten Blick aber inhaltlich erstaunlich umfangreiche Ausstellung in den Kunstmuseen Erfurt gewidmet. In der Galerie Waidspeicher im Kulturhof zum Güldenen Krönbacken verhandelt die Schau mit dem vielsagenden Titel "Palmen aus Plastik. Sommer, Sonne, soziale Ungleichheit" die bedrohten Verheißungen des Sommers.
Düsterer Abgrund auf schattigen Balkons
15 künstlerische Positionen aus Deutschland, Bulgarien, Norwegen und Portugal haben die beiden Kuratoren Celine Loesche und Philipp Schreiner zusammengebracht, um vor allem soziale Fragen zu stellen. Erst werden sorglose und alltägliche Momentaufnahmen des Sommers hervorgerufen: das künstliche Blau eines Pools, Schwimmärmchen im Sand, abgestellte Pantoletten, von Markisen schattig gehaltene Balkone ("Balkonien"), eine Klebefliegenfalle. Bei genauerem Hinschauen offenbaren sie aber einen düsteren Hinter- oder Abgrund.
Der Titel "Palmen aus Plastik" ist eine Referenz auf den gleichnamigen und sozialkritischen HipHip-Song von Bonez MC und RAF Camora. Er wird gewissermaßen illustriert von der Installation "Summer on a budget 63,49€" von Jacopo Dal Bello. Der Künstler kombiniert einen rot-weiß-gestreiften Liegestuhl (Referenz auf Pommes Schranke?) mit einer aufblasbaren Palme (aus Plastik), einer Packung Capri-Sonne, Wasserflasche, Sand und einem Klappaufsteller mit den entsprechenden Kassenbelegen.
Es ist die Urlaubsrealität derer, die es sich nicht leisten können, dorthin zu fahren, wo die echten Palmen wachsen. Die Arbeit ist in Schlichtheit und Direktheit kaum zu übertreffen, was keinesfalls unsubtil, sondern angemessen wirkt. Um einen Eintrag im Gästebuch zu zitieren: "Spiegelt den Abfuck gut wieder."
Als "Malle" noch für Freiheit stand
Auch der Untertitel weckt musikalische Assoziationen: "Sommer, Sonne, Sonnenschein" lautet nämlich eine sich ständig wiederholende Zeile aus dem Songtext von "Ab in den Süden", einem Partyhit von Schlagersänger Buddy aus dem Jahr 2001. Klingelt es? Das Lied besingt das unbeschwerte Gefühl, mal eben die "sieben Sachen" zu packen, einfach in den Flieger steigen und gen Süden zu reisen. Flugziel ist eine Insel, auf der einfach nur die Sonne genossen, Bikinis geguckt, Melonen gegessen und Tequila getrunken wird.
Auch ohne die Erwähnung von "Eimersaufen" ist klar, dass es sich um Mallorca handelt – von seinen deutschen Touristen lange einfach liebevoll "Malle" genannt. In dessen Zentrum: der Ballermann, deutsche Touristenkolonie im Mittelmeer. Er stand in den 90er- und Nuller-Jahren für unkontrollierten Spaß, mit ihm verband sich ein Freiheitsbegriff, an dem einige Autofahrer noch heute festhalten, wenn sie gegen das Tempolimit demonstrieren:
Freiheit, das bedeutet Reisen, in Bewegung sein, Grenzen überwinden (oder ignorieren). Mit Mallorca verband man Pauschalreisen an die Sonne – gerade auch für diejenigen, deren Wohlstand eher prekär war. Natürlich reiste man mit dem Billigflieger. Ja, die Mallorca-Reise war DAS Bild für den sozialen Fortschritt in der "Petromoderne", benannt nach jenem Material, das in den wichtigsten Produkten der Moderne steckt – allen voran im Plastik.
Die Sylter Kuh in einer Flagge in den Farben der Reichsfahne
Damit landet man nun im Herzen der Gegenwart, von der aus man nostalgisch-skeptisch auf jenes reisefreudige und zugleich umweltzerstörerische Zeitalter blickt. Einer Gegenwart, in der Superreiche einfach weiter sorglos verbrauchen und die Freiheit haben, (sogar ins Weltall) reisen zu können, während Intellektuelle die Freiheit genießen, bleiben zu können und ihr Privileg betonen, (noch) nicht flüchten zu müssen, wie Eva von Redecker das jüngst in ihrem Buch "Bleibefreiheit" getan hat. Und in der sozial Benachteiligte sich ihrer kleinen Freuden beraubt fühlen. Dass diese kleinen Freuden auch nicht vom 9 Euro-Ticket (und auch nicht vom 49 Euro-Ticket) wiederkommen, ja, dass solche "Entlastungspakete" nur neuer Brennstoff in der glimmenden und brodelnden Debattenlandschaft sind, konnte man im Sommer letzten Jahres gut beobachten, als just die Idee, mit dem 9-Euro-Ticket Sylt – die Nordseeinsel der Schönen und Reichen – zu stürmen, im Netz auf große Begeisterung stieß.
Das thematisiert in der Ausstellung Jody Korbach mit ihrem Bild "Ich will zurück nach Westerland". Das Zitat aus dem gleichnamigen Ärzte-Song ruft den lustig-satirischen Umgang mit den großbürgerlichen Urlaubsgewohnheiten in Erinnerung. Da hieß es zum Beispiel: "Es ist zwar etwas teurer / Dafür ist man unter sich / Und ich weiß, jeder Zweite hier / Ist genauso blöd wie ich".
Doch Korbach zeigt, dass soziale Ungerechtigkeit heute kein Thema mehr ist, das lediglich Satire auf den Plan ruft, sondern zunehmend auch Radikale. Auf ihrem Bild thront die Sylter Kuh, das Wahrzeichen der Insel, inmitten einer Flagge in den Farben der Reichsfahne.
Eine zunehmend unerfüllbar werdende Sehnsucht
Auch in der Videoarbeit von Annette Erlenwein mit dem Titel "Twodaysinjune" lassen sich Nationalflaggen entdecken. Die Aufnahmen für ihre Arbeit entstanden während der Fußballweltmeisterschaft 2006, einer Zeit also, die dank Sönke Wortmanns Kino-Dokumentarfilm auch als Deutschlands "Sommermärchen" bekannt geworden ist. Erlenwein macht spürbar: Auch in diesem Märchen fallen Schatten.
Mit alltäglichen Aufnahmen in Berlin-Gropiusstadt, die seit den 1980er-Jahren als sozialer Brennpunkt gilt und überwiegend von Berlinern mit Migrationshintergrund bewohnt wird, zeichnet die Künstlerin ein ambivalentes Bild: Während Deutschland die Gelegenheit nutzte, seinen Patriotismus endlich wieder unverkrampft ausleben zu können, wuchs auch die Abgrenzung und der Hass auf Fremde. Auf dem dreiteiligen Splitscreen sieht man nicht nur glücklich spielende Kinder und wehende Flaggen. Man sieht auch einen verbarrikadierten Balkon oder einen bewachsenen Maschendrahtzaun. Bilder, die sich zusammen mit dem jeweiligen Sound in den Betrachtenden zu überlagern beginnen.
Das Thema "Sommer" fungiert hier also als Brennglas für vielfältig miteinander verstrickte Beobachtungen und Diagnosen – aber allen voran auch für eine zunehmend unerfüllbar werdende Sehnsucht. Glücklicherweise verharrt die an Referenzen und Assoziationen sehr reiche Ausstellung aber nicht im Pessimismus, sondern etabliert für diejenigen, die am meisten von der sozialen Ungerechtigkeit und von ausbleibenden Sommerurlauben betroffen sind – nämlich Kinder und Jugendliche – eine Bleibeperspektive: So wurde ein umfangreiches und kostenloses Ferienprogramm mit Workshops organisiert, inklusive Mittagsverpflegung und Fahrschein für die An- und Abreise.