Film über Aktivistin Eren Keskin

Ein Leben im politischen Ausnahmezustand

Ein schmerzhaft intimes Porträt widmet sich der türkisch-kurdischen Menschenrechtsanwältin Eren Keskin. Der Film wirft einen Blick auf das mörderische Klima in einem Land, dessen Kunstszene sich zunehmend politisiert

Den Schock über den Wahlsieg Recep Tayyip Erdoğans im Mai 2023, im 100. Jahr der Republikgründung, musste der säkulare Teil der Türkei erstmal verkraften. Eine demokratische Zukunft rückte wieder in weite Ferne, was nicht heißt, dass es gar keine Hoffnungsschimmer, etwa für die kritische Kunstszene gäbe.

Da wäre die Wiedereröffnung des privaten Kunstmuseums Istanbul Modern der Industriellen-Familie Eczacıbaşı im Juni, die zu einer Trotzdemonstration gegen den autoritären Regierungsstil des alten und neuen Präsidenten geriet. Nicht nur, weil eine staatliche Förderung von Gegenwartskunst inexistent ist, können Oligarchien-Projekte wie diese die Lücke neben unabhängigen Art Spaces spektakulär füllen. Trotz aller Abhängigkeitsstrukturen schaffen sie immerhin auch eine Oase für die liberale Öffentlichkeit, die sich dem Regime in Ankara trotz zunehmender Restriktionen weiterhin entgegenstellt.                

Zuletzt konnte man diesen Widerspruchsgeist bei den intransparenten Personalentscheidungen für die Istanbul-Biennale und den türkischen Pavillon in Venedig erleben, die eine Welle der Entrüstung seitens der Kunstszene gegen die zuständige Istanbuler Stiftung für Kunst und Kultur (IKSV) nach sich zog – inklusive Diskussionen über die Art und Weise, wie sich die Macht im türkischen Kunstbetrieb berechenbarer verteilen ließe. Das Klima der Willkür, das sich durch diese Vorgänge zieht, kennt die Anwältin und Menschenrechtsverteidigerin Eren Keskin nur zu gut. Sie stellt das System seit Jahrzehnten in Frage, kämpft für Pressefreiheit und versucht jenen juristisch zu helfen, deren Stimme unterdrückt werden soll: Vergewaltigte Frauen, Personen aus der LGBTIQ+-Community sowie andere Minderheiten.

140 Strafverfahren gegen eine Frau

In dem Dokumentarfilm "Eren" von Regisseurin Maria Binder lernt man einiges über die Unterdrückungsmechanismen, die auch widerspenstigen Vertretern der Kunstszene nicht unbekannt sein dürften; in einem Land, in dem ein Einspruch schnell mit Anklagen und der absurden Erklärung zur Staatsfeindin quittiert wird.

Keskin, die erst spät erfahren hat, dass sie Kurdin ist, wurde bereits mehrfach verhaftet. Im regierungstreuen Fernsehen wurde sie als Landesverräterin bezeichnet, weil sie es auszusprechen wagt, dass die Polizei sexualisierte Folter gegen Frauen anwendet. Gegen die Trägerin des Amnesty Menschenrechtspreises liegen 140 Strafverfahren vor, die meisten beziehen sich auf Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches, der die "Beleidigung des Türkentums, der Republik und der Institutionen und Organe des Staates" unter Strafe stellt.     

Keskin droht eine lebenslange Haft. Natürlich bekommt sie auch Morddrohungen. Binder begleitet sie zum Gericht, zu ihren Mandanten, darunter eine von den Nachbarn und der Justiz gemobbten Transfrau und zu einem Friedhof, auf dem Opfer des armenischen Genozids liegen.

Ein weiblicher Sisyphus                                                                     

Sie erzählt von Gewalterfahrungen in ihrer eigenen Ehe und den vielen Mitkämpfern und -kämpferinnen, die ermordet wurden. Leider beschränken sich die inszenatorischen Einfälle des Films auf die Vermittlung einer beinahe manisch wirkenden Geschäftigkeit. Man folgt Keskin im Taxi auf dem Weg zum Flughafen, sitzt mit ihr im Flugzeug, hört ihr beim Telefonieren zu, mischt sich unter Demonstrierende und besucht die Mutter, bevor die Kamera wieder Berge von Akten ins Visier nimmt. Bei aller Intensität durchkreuzt diese hektische Nähe auch immer wieder sich häufende Redundanz.                                                                         

Die Titelheldin selbst rettet das Porträt zum Glück vor dem Vakuum der Einfallslosigkeit. Keksin ist nicht nur optisch eine Erscheinung. Sie vertritt ihre Agenda mit unerschütterlichen Gesten und harrt in ihrer Heimat aus, obwohl ihr zwei europäische Konsulate bereits Zuflucht angeboten haben.

Keksin ist ein weiblicher Sisyphus, der nicht anders kann, als den Stein immer wieder aufs Neue den Berg hochzurollen, stets die Angst im Nacken, dass sie die nächste sein könnte, die trotz internationaler Bekanntheit spurlos verschwindet. Ein Leben im politischen Ausnahmezustand, eingefangen in einem schmerzhaft intimen Porträt, das trotz Regiemängeln unter die Haut geht.