Die Fondation Hartung-Bergman im südfranzösischen Antibes hat dem Berliner Kupferstichkabinett 213 druckgrafische Werke geschenkt – nur ein kleiner Teil des Nachlasses, den die Stiftung verwaltet. Ein Besuch
Im Atelier ist alles fast noch so, wie Hans Hartung es verlassen hatte, bevor er im Dezember 1989 im Alter von 85 Jahren starb. Die Wände sind übersät von einem wilden All Over der Farben, die er, schon im Rollstuhl, in seinen letzten, immens produktiven Lebensjahren per Spritzpistole auf die Leinwände brachte. Ein spätes Bild steht auf der Staffelei, eine gelb-schwarze, gesprüht-gespritzte Komposition. Und all seine Malwerkzeuge sind noch da, kleine und große Pinsel aller Arten, manche wie Staubwedel, Farbrollen und Schaber. Einige, aus Reisig zusammengebastelt, sehen aus wie grobe Besen: Mit ihnen kratzte und klatschte Hartung die Farbe in ungekannten Texturen auf die Leinwände, als malte er direkt mit den Zweigen der Olivenbäume in seinem Garten.
Ein großes Fenster gibt den Blick auf die blendend weißen Wände des Wohnhaus-Ensembles oberhalb des Ateliergebäudes frei, auf denen der Schatten der Bäume selbst schon wie abstrakte Malerei wirkt. Hartungs Villa und Atelier sind vom Künstler in den 60er-Jahren entworfen worden – die hufeisenförmige Villa mit Pool und die Atelierräume, deren Modernismus durch maurisch abgeschrägte Wände dezent modifiziert wird, fügen sich mit bestechender Eleganz in eine Hügellandschaft mit 100-jährigen Olivenbäumen ein. Die teils sehr großen Glasfenster, viele im Querformat, wirken wie Gemälde, sie fassen die Natur draußen ein wie Bilderrahmen.
Auch die Anbauten, die die Fondation in den Jahren nach Hartungs Tod errichtete, stören die sorgfältig austarierten Proportionen der Architektur nicht – sie wurden nötig, weil der Nachlass so umfangreich ist.
Ein entschlossener Verfechter der Abstraktion
Der 1904 in Leipzig geborene Hartung, in den 50er- und 60er-Jahren einer der bekanntesten Vertreter des Informel, war ein manischer Experimentator: In den langen Jahren seiner künstlerischen Tätigkeit, von den 20er-Jahren bis zu seinem Tod, lotete er die Möglichkeiten der Malerei aus, sehr früh abseits jeder Figuration. Sein Leben lang war Hartung ein entschlossener Verfechter der Abstraktion. Ihn faszinierte die malerische Geste: „Es ist diese Lust, die mich treibt: jene Leidenschaft, dies Spur meiner Gestik auf der Leinwand oder auf dem Papier zu hinterlassen. Dabei geht es um die Aktion des Malens, Zeichnens, Kratzens, Schabens“, sagte der Künstler 1952 in einem Interview.
Hartungs Werkgruppen aus den 50- und 60-Jahren, oft fast kalligrafisch anmutende schwarze, sehr frei wirkende Marker auf dunklen Hintergründen, sind Ikonen der Zeit geworden und finden sich in jedem Museum. Doch auch in den Dekaden danach arbeitete Hartung weiter – und kein kleiner Teil der entstandenen Arbeiten blieb im Studio. Dazu kam die Kunst seiner 1987 verstorbenen Ehefrau Anna-Eva Bergman, eine aus Norwegen stammende Malerin. Jetzt verfügt die vom französischen Staat als gemeinnützig anerkannte Fondation in Antibes über nicht weniger als 16.000 Originalwerke, die von den ehemaligen Assistenten Hartungs, Jean-Luc Uro und Bertrand Derderian, seit 1989 nach und nach aufgearbeitet wurden.
Vermeintlich expressive Pinselstriche waren exakt und penibel
Dabei haben die Assistenten einige echte Entdeckungen gemacht. So finden sich zu vielen der Ölgemälde aus der frühen Informel-Phase mit ihren spontan wirkenden, gestischen Linien und Farbflächen auch Zeichnungen, die als genaue Vorlage gedient haben dürften. „Hartungs vermeintlich expressive Pinselstriche waren exakt und penibel ausgeführte Vergrößerungen von Vorzeichnungen“, erklärt Bertrand Derderian. Wirklich spontan arbeitete er erst in späteren Werkgruppen, wo er auch die Acrylfarben und die Technik des Sprühens und Spritzens etablierte.
Diese Zusammenhänge können von Jean-Luc Uro und Bertrand Derderian nicht nur in aus dem unglaublich gut sortieren Archiv zusammengestellten Werküberblicken aufgezeigt werden, sondern sind auch in der Datenbank nachvollziehbar, die Uro in jahrelanger Arbeit entwickelt hat: Ein einmalig gut organisiertes digitales Archiv, in dem zu jedem Bild in der Fondation mit einem Klick die Ausstellungsgeschichte, Pressebesprechungen und anderes Material erscheint.
Ein exemplarisches Forschungsprojekt
„Für mich ist die Arbeit mit Hartungs Nachlass ein exemplarisches Forschungsprojekt über ein Werk, seine Verknüpfung mit dem Markt, über Möglichkeiten seiner Archivierung und Erforschung“, erklärt Bertrand Derderian.
Mit einigen wenigen kontrollierten Verkäufen, in Deutschland über die Berliner Galerie Clemens Fahnemann, bemüht sich die Stiftung, das Werk Hartungs im Markt präsent zu halten und in Museen zu platzieren. Ein ähnliches Ziel hat die von Clemens Fahnemann vermittelte Schenkung von 213 Druckgrafiken, die in diesem Jahr an das Berliner Kupferstichkabinett ging; weitere Grafik-Konvolute gingen an die Bibliothèque nationale de France in Paris und dem Kabinett der Grafischen Künste der Musée d’art et d’histoire der Stadt Genf.
Ab dem 30. Juli ist eine Auswahl der Druckgrafik in der Schau „Vom Esprit der Gesten. Hans Hartung, das Informel und die Folgen“ im Berliner Kupferstichkabinett zu sehen. Gleichzeitig wird das Online-Werkverzeichnis der Druckgrafik Hartungs auf der Internetseite der Fondation Hartung-Bergman zur allgemeinen Nutzung freigeschaltet. Die Berliner Galerie Fahnemann zeigt vom 30. Juli bis zum 4. September die Ausstellung "Hans Hartung".