1975 erschien "The Painted Word" des US-amerikanischen Schriftstellers Tom Wolfe, in dem er die moderne Kunstwelt seiner Zeit und ihr Verhältnis zur Gesellschaft beleuchtete. Sein kritischer Blick galt insbesondere der aufkommenden abstrakten Kunst und der damit einhergehenden größeren Relevanz von Theorien und intellektuellen Konzepten, die an die Stelle der visuell-ästhetischen Erfahrung eines Werkes traten.
Die titelgebende "gemalte Welt" war für Wolfe die Menge an Begleittexten, Kommentaren und kritischen Diskussionen. In seinen Ausführungen bezog er nicht nur die Werke selbst, sondern auch die Mechanismen der Kunstwelt, ihrer Künstlerinnen und Kritiker mit ein. Die Prognose war ernüchternd: eine Entfremdung zwischen Kunstschaffenden und dem breiteren Publikum. Der Veröffentlichung folgte eine Kontroverse um verletzte Befindlichkeiten, doch insgesamt regte das Buch Diskussionen über die Bedeutung von Kunst, ihre Rolle in der Gesellschaft und den Einfluss von Theorien auf die Wahrnehmung an.
Nach fast 50 Jahren hat die Kunstwelt noch immer keine endgültige Antwort gefunden, aber wird der Suche nicht müde. Nun fanden in den verschneiten Schweizer Alpen wieder die jährlichen Engadin Art Talks (E.A.T.) unter dem Motto "Jenseits von Ohnmacht / Beyond Powerless" statt. Zuoz ist ein malerischer Ort inmitten des Oberengadins. Das Licht, die Landschaft, Intellektuelle wie Wagner, Nietzsche, Benjamin, Rilke, die Atmosphäre glamouröser Winterdestinationen: Das Schweizer Hochtal ist seit langem ein Anziehungspunkt und taucht in den letzten Jahrzehnten immer verlässlicher auf der Landkarte der Kunstwelt auf. Nicht zuletzt seit verschiedene internationale Galerien dem kreativen Ruf und dem des Geldes gefolgt sind.
Zuversicht wiedergefunden
Die E.A.T. sind dabei nicht wegzudenken. Seit der ersten Ausgabe 2010 in kleinem Rahmen hat sich die Veranstaltung zu einem jährlichen, multidisziplinären Forum für Kultur und Innovation entwickelt. Eines, das auch das ganze Jahr über in Zusammenarbeit mit Institutionen in Paris und London seine Mission international verbreitet, wie es die gemeinnützige Stiftung selbst beschreibt.
Auf dem Treffen der internationalen Kulturelite, wie es die regionalen Tageszeitung beschreibt, tauchte unter den Teilnehmenden aus Kunst, Musik, Film, Architektur und Wissenschaft mehr als einmal die Frage auf, ob Kunst die Welt verändern könne. An seinem Art Talk im Jahr zuvor sprach der ehemalige deutsche Bundespräsident Joachim Gauck davon, dass Kunst in einer Welt, die mit zahlreichen Krisen konfrontiert sei, eine zentrale Rolle für positive Veränderungen und eine nachhaltige Zukunft spielen könne – und auch solle. Fast 50 Jahre nach Wolfes Publikation hat man immerhin beim Schweizer Gipfeltreffen die Zuversicht hinsichtlich der Bedeutung von Kunst und ihrer Rolle in der Gesellschaft wiedergefunden.
Atemberaubende Schneelandschaften, gleißender Sonnenschein, zartschmelzendes Fondue, von Ruinart gesponserter Champagner – die E.A.T. sind all das und noch viel mehr. Vor dem öffentlichen Programm startete der "Circle of Friends". Schon am Bahnhof fühlte es sich mit Umarmungen und dem Schweizer Dreierküsschen zu allen Seiten wie ein Treffen unter Freundinnen und Freunden an.
Fingerfood und food for thought
Namhafte Größen der Kunstwelt stiegen in den kleinen Bus, der sie die gewundene Straße zum Hotel Castell hinauf beförderte. Das wunderschöne Haus, das sich seit Mitte der 1990er-Jahre im Besitz der Sammlerfamilie Bechtler befindet, ist eine feste Anlaufstelle im Alpenraum für das kunstaffine Publikum. Die Wege sind kurz, denn Cristina Bechtler ist auch die Co-Gründerin von E.A.T., zu dessen namhaftem Kuratorium neben Mitgründer Hans-Ulrich Obrist (Serpentine Galleries, London), Daniel Baumann (Kunsthalle, Zürich) und Philip Ursprung (gta ETH, Zürich) neu auch Koyo Kouoh (Zeitz Mocaa, Kapstadt) zählt, die von Bice Curiger (Fondation Vincent van Gogh, Arles) übernommen hat. Beim abendlichen "Artist Dinner" und "Fireside Chat" begegnen sich all die alten und neuen Bekannten, und alle stoßen auf ein empowerndes Wochenende an.
Dann begann schließlich das offizielle Programm im Gemeindehaus Zuoz. Neben den Jackenständern im Eingangsbereich lagen einige Exemplare der aktuellen "ArtReview"-Ausgabe, in der die "Power 100" der Kunstwelt gelistet ist. Nicht wenige der mächtigsten 100 nehmen im Raum nebenan ihre Plätze ein, um die allgegenwärtige Ohnmacht angesichts der Weltlage mit Performances, Lesungen, Vorträgen und Filmvorführungen in einen Möglichkeitsraum umzudeuten.
Künstlerin Klaudia Schifferle las ein poetisches Werk, Architektin Elisa Silva sprach über ihre hochspannenden Kultur- und Bildungsprogramme in den Barrios des venezolanischen Caracas, Forscherin und Autorin Rasha Salti stellte die Idee eines gemeinschaftlich gepflegten Gartens wie den von Issa Samb in den Raum, der Künstler Christopher Kulendran Thomas erzählte von seiner Praxis des Archivierens einer noch nicht dagewesenen Vergangenheit und Zukunft.
Gegen die Ohnmacht auf allen Ebenen
Die eklektischen Beiträge fügten sich seltsam harmonisch ineinander und brachten wiederkehrende Motive wie Solidarität, Austausch und Poetik auf. War das der Raum, in dem wir Stärke entdecken, Hoffnung zurückgewinnen und die Fähigkeit zum Handeln finden würden, den uns das Programmheft versprach? Beim Lunch mit Weißwein auf der Sonnenterrasse reflektierte der "Circle of Friends" weiter. Man scherzte, dass am Tisch im Inneren des Lokals das kuratorische Team beisammen saß und bis zum Nachtisch das Motto für das nächste Jahr bestimmten.
"Lassen Sie mich eine Sache über Hoffnung sagen. Ich weiß nicht, ob Ihnen bewusst ist, dass Hoffnung in Amerika heutzutage so etwas wie ein Schimpfwort ist. Es ist kein gutes Thema für Amerikaner, darüber zu sprechen." 2023, als auch Gauck zu Wort kam, war das Motto "Hoffnung?/Hoffnung!" und das Zitat auf der E.A.T.-Website stammt aus dem Beitrag der Künstlerin Barbara Stauffacher-Solomon. Passend dazu gab es die Edition von Ai Weiwei, die der Sammlung von tote bags eines Kulturmenschen ein weiteres Teil hinzufügte: Ein Jutebeutel, der mit seinem Aufdruck "Hope" und "Less" lakonisch das Motto umkehrte.
2024 ging es jedoch ungebrochen selbstbeschwörend weiter: Am Nachmittag kehrte Filmemacher Menelaos Karamaghiolis Ohnmacht durch Kunst und Film zur Stärke um, Medienspezialistin Paola Audrey Ndengue warf den Aspekt der Popkultur auf, und Künstlerin Zilla Leutenegger sprach über den Schatten in ihrer Praxis. Abgerundet von Franziska Aigners Cello-Performance, der der "Circle of Friends" bereits am Abend zuvor gelauscht hatte, endete das offizielle Programm des Tages. Im hoteleigenen Kino ging es im Castell jedoch mit Filmen von Deborah-Joyce Holmann, Karamaghiolis, einer Auswahl von Werken des St. Moritz Art Film Festivals und Kurzfilmen von Alexander Kluge weiter, dem sich Besuchende nach dem abendlichen Fondue in der Berghütte und noch mehr Weißwein widmen konnten.
Perspektive eines Möglichkeitsraums
In einer Welt voller Herausforderungen, Ungewissheit und manchmal unüberwindbar wirkender Hindernisse scheint das Gefühl der Ohnmacht oft allgegenwärtig zu sein. Das Programmheft sparte nicht mit Pathos. Doch in einigen Momenten, wie beim Vortrag mit Hernando Chindoy Chindoy, dem indigenen Inga-Anführer der kolumbianischen Wuasikamas Initiative, die sich als Hüterinnen des Landes engagiert und sich der Macht der Kartelle und politischen Verstrickungen entgegenstellt, scheint sich ein Möglichkeitsraum aufzutun.
Nachdem die Künstlerin Simone Fattal von ihrer langjährigen, vielschichtigen Praxis berichtet hatte und Kurator Dieter Schwarz, Obrist und die Direktorin von Hauser & Wirth St. Moritz, Giorgia von Albertini, noch über deren Gerhard-Richter-Ausstellung sprachen, waren die Engadin Art Talks jenseits der Ohnmacht angekommen. Als die Sonne hinter den schneebdeckten Gipfeln verschwand, wurde es wieder ruhig im winterlichen Zuoz – bis zur nächsten E.A.T.-Ausgabe, die wieder ihre Freundinnen und Freunde, ihre Bewunderer und die "Painted Words" ihrer Teilnehmenden zusammenbringen wird.