Ist das tout Wiesbaden, das auf dem Reisinger Feld im Schatten einer Eiche wartet? Die Parkanlage liegt direkt vor dem Hauptbahnhof, getrennt – wie so oft in der schönen Kurstadt – von einer mehrspurigen menschenfeindlichen Verkehrsplanersünde. Motoren regieren allerdings auch die Rasenfläche. Ein Mördertraktor steht bereit. Gleich zieht er einen Container durch den Park, aus dem sich eine stabile Mauer entrollt. Sie ist 333 Meter lang und ein echter Hingucker. Ein verwirrter Mann setzt sich vor den Traktor und will verhindern, dass hier eine Grenze entsteht. "Ich will auf die andere Seite!" Sicherheitsleute greifen ruppig ein, Festivalmenschen beruhigen mit flackernder Stimme. Wenn der Verwirrte ein Schauspieler ist, dann ein guter.
Die Mauer ist von Santiago Serra. Sie bleibt bis zum 2. September stehen, so lange dauert die 2. Wiesbaden Biennale. Davor war das Festival für die Idee des internationalen Theaters konzipiert, wie es der ehemalige Wiesbadener Intendant Manfred Beilharz schon früh für den deutschen Betrieb forderte. Das Staatstheater, nun unter der Leitung von Uwe Eric Laufenberg, richtet die Biennale aus, auch mit Mitteln der Kulturstiftung des Bundes. Doch mit Theater hat das Programm der Kuratoren Maria Magdalena Ludewig und Martin Hammer fast nichts mehr zu tun. Schön, wie das Theater das aushält. Vielleicht weil es schlau ist.
Vieles findet im Stadtraum statt, aber die härtesten Eingriffe muss das hessische Staatstheater erdulden. Mit Gewinn! Ein vollausgestatteter Rewe-Markt hat Einzug ins Theater gehalten, sicher der schönste im ganzen Land, mitsamt Logen, barockem Stuck und Plüsch. Und dem Piepen der Kasse. Doch der Payback ist brutal: Theater zu Supermärkten. Früher druckte der Bühnenverein Aufkleber: "Theater muss sein!" In Wiesbaden sagt das Theater: "Einkaufen muss sein!" Das ist erfrischend, weil es selbstbewusst trotzdem zeigt, was das hieße.
Oder Theater zu Parkhäusern gar, wie es Münchner Hipster um Thomas Meinecke Ender der 80er-Jahre forderten, analog zu solchen "Nachnutzungen" in Detroit? Tatsächlich führt eine Rampe aus Holz von außen auf die Bühne, wo schicke Autos stehen. Der Ko-Kurator Martin Hammer: "Für uns sind der Supermarkt und das Parkhaus auch eine Selbstprovokation, die wieder zu einer Bestärkung führen kann. Man kann sich auch dafür entscheiden, für eine Institution. Es ist nicht etwas Gegebenes, bei dem man sagt, na ja, da fließen jetzt die Steuergelder hin, man kann auch sagen: Das ist etwas, was man will als Stadtgesellschaft." Hier wird eine Grenze überschritten, um sie rückwirkend zu bestätigen.
Detroit, Symbol des Ruinenpornos, und Wiesbaden: Da passt relativ viel dazwischen, oder? Mit solchen Fragen geht es zur Mittagszeit gemütlich ins Pornokino Blue Box. Das Publikum: über 60. Außer im ersten Kabuff gleich nach der Kasse. Dort läuft ein Video von Erik van Lieshout. Er erzählt selbstironisch von der Affäre zu seiner Assistentin. Die Stöhngeräusche von nebenan nimmt er bewusst in Kauf. Doch auch van Lieshout ringt mit der Moral: "Het ist goed, het ist slecht, het is goed …" Was gut ist, und was schlecht: ein zufälliger Kinderreim.
"Bad News" steht über dieser Biennale, die Fahnen in Schwarzweiß wehen in der ganzen Stadt. Doch was Bad News für die einen, sind Good News für die andern. Der Konsenskorridor ist schmal geworden. Die Biennale untersucht solche Umkehrungen im Park, im Pornokino etwa, auf der Grenze zwischen Kurstadt und Migrantenviertel. Oder, direkt daneben, in der City Passage, einer stillgelegten Einkaufswelt.
In den Schaufenstern stellen Puppen häusliche Gewalt nach bei Markus Öhrn und Arno Waschk. Das öffentliche Einkaufen wird zur häuslichen Horrorshow. Kleine Laternen erinnern an ein Dorf. "Hinterland" heißt das zweite Motto des Festivals. Maria Magdelena Ludewig, die mit Martin Hammer die Biennale kuratiert: "Die City Passage ist an sich schon Hinterland, weil sie so versteckt ist hinter den Fassaden und andererseits bisschen der Schandfleck von Wiesbaden ist, für den sich alle schämen." Sterbende Innenstädte, das kommt langsam auch in Wiesbaden an. Oder schnell, wenn es so weiter geht mit dem Einzelhandel in der Digitalisierung.
Im ehemaligen Drogeriemarkt im Erdgeschoss erledigen bereits Drohnen die Arbeit, die aber nicht mehr zu sehen ist. Vermutlich filmen sie uns. Auch Rabih Mroué und Dina Khouri schaffen damit ein apokalyptisches Szenario. Wie sehr jeder Einzelne darin verstrickt ist, zeigt niemand so gut wie Dries Verhoeven in der Staatsbank am Bismarckring. Ganz verblüffende Arbeit, über die man aber besser nichts verrät.
Die Biennale von Ludewig und Hammer schafft in der überschaubaren Stadt viel Sichtbarkeit, die mehr auslöst als noch ein weiteres Dokumentarstück. Wenn man durch den Uringeruch im Tunnel der City Passage geht und die Tür zur Straße aufmacht, sieht man tatsächlich manches anders. Weniger selbstverständlich.