Digitalisierung von Sammlungen

"Das ist revolutionär"

Chris Edwards kümmert sich als Digital Media Architect beim J. Paul Getty Trust in Los Angeles um die Digitalisierung von, nun ja, allem. Monopol hat mit dem Fotografen über die Bedeutung digitaler Technik für das kulturelle Erbe gesprochen

Chris Edwards, was macht ein Digital Media Architect?
Ich kümmere mich um die Digitalstrategie für die Sammlungen am Getty. Wir arbeiten für das gesamte Institut, das heißt wir machen bei allen Projekten, Ausstellungen, Publikationen und Reproduktionsanfragen mit. Wir decken die gesamte Sammlung ab: Gemälde, Skulpturen, Bücher, Manuskripte, Möbel, Archivalien und unzählige andere Materialarten. Es gibt eigentlich kein Material, das wir nicht digitalisieren. 

Der Getty Trust mit seinem Getty Museum ist ja nicht die einzige Institution, die Bilder digitalisiert. Das machen auch viele Museen. Welche Chancen bietet das für die Zukunft von Sammlungen — und für kulturelles Erbe überhaupt?
Digitalisierung ist fantastisch, um die Reichweite zu vergrößern und die Bestände einer Institution zu bekannt zu machen. Ich bin gespannt auf die Möglichkeiten, die sich für Sammlungen, Konservierung und Informatik ergeben.

Was sind das für Möglichkeiten?
Wir betrachten Bilder als Daten. Das bedeutet, 3D-Scans zu benutzen, um akkurat zu messen und Oberflächen zu vermessen, multispektrale Analysen, um Pigmente, Gewebe, vorherige Konservierungstechniken zu identifizieren.

Nimmt die Digitalisierung von Kulturgütern nicht immer einen wichtigen Aspekt der Arbeit weg? So etwas wie Materialität?
Das digitale Surrogat eines physischen Objekts ist grundsätzlich verschieden vom Original. Ich denke, es geht nur etwas verloren, wenn die Betrachter nicht anerkennen, dass sie nur ein digitales Faksimile vor sich haben. Das ist kein Ersatz für die Auseinandersetzung mit dem Original. 

Aber kann die Digitalisierung auch etwas hinzufügen?
Ja, auf der anderen Seite kann die Technik neue Einsichten in ein Werk bieten, die dem menschlichen Auge verborgen bleiben. Ultraviolett- oder Infrarot-Fotografie beispielsweise macht Unterzeichnungen bei Gemälden sichtbar. Oder Oberflächentopographische Verfahren wie Reflectance Transformation Imaging, das sogenannte RTI: Dabei wird die Oberfläche eines Objekts unter verschiedenen Lichteinwirkungen  gescannt. So kann man Veränderungen in Lithographien zeigen, auch wenn die Farbe längst verblasst sind. Kurz gesagt: Ja, die Fotografie kann dem Studium der Objekte etwas hinzufügen. 

Und über einzelne Objekte hinaus?
Maschinensehen und Deep Learning benutzen wir, um Verbindungen in riesigen Datenmengen zu finden. Das wäre für das menschliche Auge und Gehirn unmöglich. Diese Technologien werden zunehmend billiger und verbreiten sich. Das wird in Zukunft öfter und geschickter eingesetzt. 

Vor ein paar Monaten konnte man bei der Google Arts & Culture darüber staunen, wie der Algorithmus eine Riesenmenge von Bildern durchforstete. Wie verändert künstliche Intelligenz die Archivarbeit?  
Maschinensehen, lernende Computer, künstliche Intelligenz, all das sind Technologien mit tiefgreifenden Auswirkungen auf alles, was sich aus Archiven und Sammlungen herauslesen lässt. Einen ganzes Archiv durchforsten zu können, wie es das menschliche Auge nie könnte — das ist revolutionär. Diese Technologie ersetzt den Menschen natürlich trotzdem nicht. Aber ich sehe einen nutzbringenden Einsatz beim Erstellen von Metadaten zu den Objekten. Auch das macht die Archivare und Bibliothekare nicht überflüssig, aber es hilft beim Erfassen von Sammlungen ohne Kataloge.

Arbeiten Sie auch mit künstlicher Intelligenz?
Am Getty fangen wir bald an mit einem Projekt namens Phototech. Das basiert auf einer Sammlung kunsthistorischer Lehrmaterialien. Also, im Prinzip Fotos von Objekten auf Holz aufgespannt. So hat man Kunstgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert gelehrt. Auf der Rückseite sind handgeschriebene Notizen. Davon haben wir 1,2 Millionen in der Sammlung, und nur ein winziger Bruchteil ist katalogisiert. So bald die gescannt sind, nutzen wir maschinelles Sehen, um sie mit anderen Sammlungen zu vergleichen. Darauf folgt die Zuordnung, Texterkennung und die Identifikation der Künstler. Das ergibt die Metadaten. Ein Riesenprojekt, und es bringt unser Verständnis weiter, wie Kunstgeschichtsschreibung sich global und historisch verändert.