Judy Chicago, zurzeit ist von einer neuen Feminismuswelle die Rede, zu der etwa die britische Autorin Laurie Penny oder die amerikanische Autorin und Schauspielerin Lena Dunham gezählt werden. Was halten Sie von den zeitgenössischen Feministinnen?
Es sind viele, und das ist wichtig. Heute erst habe ich in der Zeitung von einer Frau gelesen, die als "Feminazi" tituliert wird, weil sie einen Kerl beschimpft hat, der bei LinkedIn Bemerkungen über ihr Aussehen gemacht hatte. Der Artikel berichtet darüber, wie mit diesem Begriff Frauen zum Schweigen gebracht werden und dass es unter jungen Frauen wieder ein Interesse am Feminismus gibt. So ist es in der Regel: ein Schritt vorwärts, ein Schritt zurück, ein Schritt vorwärts …
Deswegen spricht man wohl von Wellen.
Genau. Aber das stimmt eigentlich nicht, da es eine lange, ununterbrochene Geschichte des Kampfes für Gleichberechtigung gibt. Mich nervt es wirklich, wenn mich Leute fragen, warum sich so viele junge Frauen nicht als Feministinnen verstehen. Was für eine Verarschung! Es sieht so aus: Man bekommt die britische Geschichte beigebracht, damit man stolz auf seine Nationalität sein kann. Wenn man auf die gleiche Weise die Geschichte des Feminismus lernen würde, würde man erkennen, was Frauen alles getan haben, um die heutigen Verhältnisse erst möglich zu machen. Dann könnte man sagen: "Ja, ich bin Feministin!"
Ihre bekannteste Installation, "The Dinner Party", stammt aus dem Jahr 1979. Sie besteht aus einer großen Tafel in Dreieckform, die für 39 berühmte Frauen, auch mythologische Figuren sind darunter, festlich gedeckt ist. Kann Ihr heutiges Publikum Ihrem Frühwerk andere Seiten abgewinnen als die damaligen Betrachter?
Bestimmt. Junge Kunsthistoriker können nun mein früheres Werk auf eine Weise interpretieren, die zu der Zeit einfach nicht möglich war. Die Bedeutungen waren verborgen. Niemand verstand, was ich machte. Sie werden mir nicht glauben, wie viele junge Frauen geweint haben, als 2007 die ständige Installation von "The Dinner Party" im Elizabeth A. Sackler Center for Feminist Art eingeweiht wurde – sie hätten nie gedacht, dass sie das Werk einmal in echt sehen könnten.
Ihre Kunstwerke sind zurzeit quer durch Europa präsent. Sie haben eine Soloschau in der Londoner Galerie Riflemaker; drei Ihrer "Car Hoods" sind in der Tate-Modern-Ausstellung "The World Goes Pop" vertreten; außerdem zeigen Sie Arbeiten in Mailand, Krakau und Bilbao.
Genau! Darüber freue ich mich sehr. Viele Leute kennen meine Kunst nur von Abbildungen. Die Ausstellung in Bilbao, die vom entzückenden feministischen Kurator Xabier Arakistain zusammengestellt wurde, heißt "Why Not Judy Chicago?". Sie bietet einen Überblick über mein Schaffen und geht der Frage nach, warum sich die Institutionen meinen Arbeiten bisher verweigert haben. Ich bin nur in wenigen großen Sammlungen vertreten. Die meisten bedeutenden Museen stricken an Erzählungen von zeitgenössischer Kunstgeschichte, in denen die Frauenbewegung insgesamt in den Schatten gestellt ist. Demnach erschienen Künstlerinnen ganz plötzlich und wie durch ein Wunder in den 80ern – nicht als Ergebnis der Guerrilla Girls und anderer Aktionen und Bemühungen von Künstlerinnen in den vorausgegangenen Jahren.
Gibt es noch weitere feministische Kuratoren, deren Arbeit Sie schätzen?
Unbedingt. Die Tate-Modern-Ausstellung – von den 65 Künstlern ist übrigens ein Drittel weiblich – bietet zum Beispiel eine völlig alternative Erzählung. Bislang hatte ich gedacht, dass Künstlerinnen sich bis zum Aufkommen der Abstraktion in eine von Männern dominierte kunsthistorische Tradition einfügen und sich mit von Männern etablierten Sujets beschäftigen mussten. Es blieb nur, das Ganze zu untergraben, wie es etwa Artemisia Gentileschi getan hat, die beim Malen des Bildes "Judith und Holofernes" die Gelegenheit nutzte, eine Vergewaltigung zu thematisieren. Nachdem ich die Tate-Modern-Ausstellung gesehen hatte, wurde mir aber klar, dass auch die Sprache der Pop-Art Künstlerinnen ermöglichte, kritisch mit ihrer Situation und dem Gebrauch von Frauenkörpern in der Konsumkultur sowie in der Kunst umzugehen. Die Ausstellung enthält viel feministische Kritik. Das war wunderbar zu sehen – und eine große Überraschung.
Setzen Sie sich in neueren Arbeiten auch mit feministischen Themen auseinander?
Lange Zeit wurde angenommen, feministische Kunst beschäftige sich nur mit Frauen, sei nur für Frauen gedacht. Das habe ich nie gelten lassen. Schließlich wird die ganze von Männern dominierte Kunstgeschichte auch von Frauen geschätzt. Warum sollte eine von Frauen dominierte Kunst nicht von Männern geschätzt werden? In den ersten 15 Jahren hat sich mein Werk auf Fragen der weiblichen Identität konzentriert, aber dann habe ich vom Standpunkt der feministischen Philosophie aus auf die weitere Welt geschaut. Die Forschung am "Holocaust Project" war dabei für mich sehr aufschlussreich. Ich habe dabei gelernt, dass die Unterdrückung von Frauen nur Teil einer globalen Struktur der Ungerechtigkeit und Repression ist. Mein Blick hat sich geweitet. Mein Feminismus bleibt aber so, wie er immer war.
Das in Interview erschien zuerst in Monopol 11/2015