Ein Jahr lang schläft er nicht eine einzige Stunde. Zwölf Monate lang lebt er auf circa neuneinhalb Quadratmetern in einem Käfig, ein anderes Mal für ein Jahr auf der Straße. Tehching Hsieh hat sechs Performances erschaffen, sein "Lebenswerk". Der gebürtige Taiwaner, der heute in New York lebt, beschäftigte sich jahrzehntelang abseits der Öffentlichkeit mit Zeit, Isolation und dem menschlichen Lebenszyklus. Jetzt zeigt eine Sonderausstellung in der Neuen Nationalgalerie in Berlin sein Werk "One Year Performance 1980-1981 (Time Clock Piece)" in dokumentierter Form.
Tehching Hsieh wirkt etwas verloren in dem schmalen Ausstellungsraum, in dem Mitarbeiter des Museums über 8.000 Fotos von ihm an die grauen Wände nageln. Es ist laut, überall wird gearbeitet und justiert, während der kleine Mann an einem langen Tisch an seinem Laptop steht. Er trägt eine dunkle Jeanshose und ein graues Leinenhemd, das bis zum Hals zugeknöpft ist. Es ist schwer vorstellbar, dass dieser gepflegte und ausgeglichen wirkende Mann einmal einfach aus dem Fenster gesprungen ist, um sich beide Knöchel zu brechen. Oder als Obdachloser ein Jahr lang auf der Straße gelebt hat.
Hsieh hat sich auf die Begegnung mit Monopol anhand einer Powerpoint-Präsentation vorbereitet, auf die er immer wieder verweist. Dort stehen seine wichtigsten Glaubenssätze auf Englisch in schwarzer Calibri-Schrift formuliert. Etwa: "Life is passing time" oder "Life is freethinking". Er beginnt sofort über seine Kunst zu sprechen, den Smalltalk lässt er einfach aus. Dafür lacht er ab und zu umso herzlicher, während er erzählt.
Im Delirium
Er deutet auf die Fotos, die die Wände des Ausstellungsraumes umringen. Von jedem einzelnen blickt Hsieh den Besucherinnen und Besuchern müde in die Augen. Es sind die Abzüge, die während der einjährigen Performance 1980 bis 1981 entstanden, bei der er stündlich eine Stechuhr betätigen musste, die daraufhin eine Kamera auslöste. Ein Jahr lang hielt er sich durch seine selbst auferlegten Regeln davon ab, mehr als 59 Minuten am Stück zu schlafen. Die dauerhafte Erschöpfung sieht man ihm an; die Müdigkeit weicht bis zum letzten Foto nicht aus seinen Augen. Wie groß die psychische Belastung des Schlafentzugs gewesen sein muss, lässt das vermuten, was nicht zu sehen ist: die fehlenden Aufnahmen.
"133 Mal habe ich es nicht geschafft. Entweder, weil ich zu früh oder zu spät war, oder weil ich geschlafen habe“, sagt Hsieh und zeigt auf ein Blatt Papier, auf dem die versäumten Stunden sorgfältig mit Datum aufgelistet sind. Dabei hatte er seine Wecker mit Lautsprechern verbunden, um sich regelmäßig aus dem Schlaf reißen zu lassen. Der andauernde Wachzustand versetze ihn in ein Delirium.„Ich bin ein Mensch wie jeder andere und ich finde durch die Auslassungen wird das Werk realer“, sagt Hsieh dazu.
Ihm ginge es aber nicht darum, zu leiden, betont der 72-Jährige. "Das Leben hat schon genug Leid. Die Idee meiner Arbeiten ist nicht, meinen Körper leiden zu lassen. Vielmehr ist meine Kunst dem Leben sehr ähnlich und das Leben ist für viele Menschen hart." Er wolle das Leben verstehen und habe deshalb auch die Dauer eines Jahres für seine Performances gewählt, sagt er. "Das Werk verlangt von mir dieses eine Jahr. Ein Jahr ist ein sehr guter Rhythmus, um auf den Lebenskreislauf zu blicken."
Arbeit im Untergrund
Nach einigen Jahren, in denen er malte, konzentrierte sich Hsieh schon früh auf Performances. Bei seinem ersten Werk "Jump" sprang er in Taiwan aus dem Fenster und brach sich beide Knöchel. Später floh er in die USA, indem er sich in der Armee zum Seemann ausbilden ließ und bei der ersten Überseefahrt in den Delaware River bei Philadelphia sprang und davonschwamm. In New York lebte und arbeitete er 14 Jahre als illegaler Einwanderer im Untergrund. Seit 1988 ist er US-amerikanischer Staatsbürger.
Dort entstand auch sein Werk "One Year Performance 1983–1984 (Rope Piece)", bei dem ihn ein Jahr lang ein um die Hüften gebundenes Seil mit der Künstlerin Linda Montano verband, ohne, dass sie sich jemals berühren durften. Die Königin der Performance, Marina Abramović, nannte ihn später einen "Meister" und lobte seine radikale und konsequente Art der Performance.
Immer wieder hat sich der Künstler in Situationen begeben, die für Außenstehende unzumutbar wirken und sich dabei selbst die strengsten Vorschriften gegeben. Als er etwa ein Jahr in dem selbstgebauten Käfig lebte, verfasste er vorher ein anwaltlich beglaubigtes Schreiben, in dem er diktierte, dass er weder mit Menschen sprechen, noch schreiben, noch Radio hören oder fernsehen durfte.
"Ich habe nur nachgedacht", erzählt Hsieh, "ein Jahr in einem Käfig zu leben ist schwer, du musst dafür ein bestimmtes Konzept haben. Mein Konzept ist, nur zu denken. Das macht das Werk so klar wie möglich, ein Werk muss klar sein." Was genau er gedacht habe, sei nicht wichtig, sagt er. "Ich möchte keine Fragen beantworten. Es geht eher darum, dass die Menschen, die meine Arbeit sehen, sich die Frage stellen, wie sie reagieren würden, wenn sie in dieser Situation wären. Sie benutzen dann ihre eigene Lebenserfahrung, um zu reflektieren. Darum geht es mir."
Ein Jahr in sechs Minuten
In der Berliner Ausstellung ist neben den Fotostreifen auch ein Video zu sehen. Es spult alle Aufnahmen des "Clock Time Piece" chronologisch nacheinander ab, ein Foto pro Sekunde. Dadurch, dass die Aufnahmen alle immer in der gleichen Position am gleichen Ort neben der Stechuhr gemacht wurden, wird aus der Diashow ein absurd schnell fließender kleiner Film. Sechs Minuten braucht das Video, um jede vergangene Stunde, die Hsieh ein Jahr lang abgestempelt hat, zu zeigen. Das Einzige, das verrät, wieviel Zeit das Video so mühelos zusammenrafft, sind die Haare des Künstlers. Sie wachsen ihm immer ungezähmter ins Gesicht und fallen bald über seine Schultern. "Das dauert jetzt noch ein bisschen", wirft Hsieh bei Minute zwei ein und lacht, "das ist noch nicht mal die Hälfte!" Sechs Minuten – das wirkt lächerlich in Anbetracht der vielen schlaflosen Stunden und Monate, die es gebraucht hat, um dieses Video zu erzeugen. Und dennoch scheint der Film mit sechs Minuten die gewohnte Aufmerksamkeitsspanne zu sprengen, die heute TikTok-Videos oder kurze Instagram-Reels vorausetzen.
In einem Interview mit Monopol im Jahr 2009 sagte Hsieh, dass er gerne Zeit verschwende. Auf diese Aussage angesprochen, antwortet er 14 Jahre später: "Ich meine das etwas ironisch. Jeder ist in irgendetwas gut und ich sage immer im Witz, das Einzige, worin ich richtig gut bin ist Zeit verschwenden!‘ Aber es stimmt vermutlich, dass meine Arbeiten auf andere Menschen wie Zeitverschwendung wirken." Bei seinem "Outdoor Piece" 1981 bis 1982, wo er ausschließlich auf der Straße lebte, habe ein Freund zu ihm gesagt, dass er die Zeit doch nutzen könne, um sein Englisch zu verbessern. Hsieh habe abgelehnt. "Ich mache nichts, um am Ende ein Ergebnis zu erzielen. Wie bei einem Job beispielsweise, bei dem man arbeitet, um am Ende Geld zu verdienen. Du machst den Job für Geld. Das mache ich nicht, ich verwende meine Zeit, um Kunst zu machen."
Kunstzeit und Lebenszeit
Tatsächlich spricht Hsieh ein schwer verständliches Englisch, obwohl er schon seit über vier Jahrzehnten in New York lebt. Seine Erklärung dafür scheint aber so stringent zu seiner Arbeit zu passen, dass man es ihm verzeiht. Bei den meisten seiner Werke redet er zudem bewusst nicht, er schweigt. Und ein schweigender Künstler wirft vermutlich noch mehr Fragen auf als ein ewig sprechender.
Der Zustand des Nicht-Sein scheint Hsieh vor allem in seinen letzten beiden Werken beschäftigt zu haben. Im "No Art Piece" von 1985-1986 schuf er keine Kunst, noch redete er darüber oder betrachtete welche. Danach folgte ex negativo der "Thirteen Year Plan". 13 Jahre lang machte er dann Kunst – aber zeigte sie niemandem.
"Seit dem Jahr 2000 mache ich keine Kunst mehr. Für mich gibt es zwei Einheiten, die Kunstzeit und die Lebenszeit. Ich befinde mich jetzt in der Lebenszeit. Ich lebe das Leben. Das ist ganz einfach", sagt Hsieh. "Ich habe zwar das Gefühl, dass meine Kunst nicht abgeschlossen ist. Kunst mache ich aber trotzdem nicht mehr. Ich glaube sowieso ganz nach Beuys daran, dass jeder Mensch ein Künstler ist und ständig Kunst produziert. Bei den meisten bleibt sie unsichtbar, weil sie sich nur in ihnen selbst abspielt, aber es ist trotzdem Kunst und sie ist omnipräsent."