Am Tag als Stephen Hawking starb, begann Brian Eno ein neues Musikstück zu schreiben. Eno kannte ihn, erzählt er, und der Physiker mochte seine Musik. Dieses neue Stück sollte an Planeten erinnern, oder an entstehende Galaxien, ganz im Geiste Hawkings.
Das Werk war bestimmt für den Gropius Bau in Berlin, als Teil der Installation "Empty Formalism". Bloß, als der britische Komponist zum ersten Mal in dem überdachten Atrium mit seinen Arkadengängen stand, merkte er: Es gibt ein Echo, mit zehn oder zwölf Sekunden Verzögerung. "Jedes Geräusch dauert zwanzigmal länger", sagt Eno. Also überarbeitete er das Stück noch einmal. "Es passierte zu viel in der Musik. Ich musste aufräumen, aber irgendwann war nichts mehr übrig." Das war am Dienstag, den 27. März. Die Ausstellung sollte am Donnerstag eröffnen.
Der 69-Jährige begann noch einmal von vorn. Das neue Stück war beinahe fertig, als sich noch eine Änderung ergab. Denn im Gropius Bau wird nicht nur ein Musikstück aufgeführt. Es ist Teil einer immersiven Arbeit — passend also zum Immersionsschwerpunkt in dem Ausstellungshaus und noch passender zum Interesse an nachgebauten Welten, die als Dioramen, als augmented oder virtual reality seit ein, zwei Jahren Museen und Galerien füllen.
Besucher begeben sich in einen Kreis aus sechs großen Screens, die langsam sich verändernde Kreise, Rechtecke und Farbverläufe zeigen. Das Ganze ist überdacht mit einem Metallgerüst. Daran sind 52 Lautsprecher angebracht. Nicht von ungefähr erinnert die Konstruktion an die utopischen Bauten des amerikanischen Architekten Buckminster Fuller: Hier wie dort sollen Kuppeln eine nach außen abgeschlossene und eine nach innen gemütlich immersive Welt bieten.
An eben jener Projektion wurde im letzten Moment noch etwas geändert. Nichts passte mehr: Ton und Bild fanden nicht zusammen. Alles auf Anfang. Das dritte Stück wurde am Dienstagabend fertig.
Der Kommunikationswissenschaftler Jonathan Sterne hielt vor einigen Jahren ein paar grundlegende Unterschiede von Hören und Sehen fest: Wir hören um uns herum, während wir immer in eine Richtung sehen. Hören ist zeitgebunden, Sehen raumgebunden. Hören bringt uns mitten hinein, Sehen schafft Distanz. Eno will beides zusammenbringen: "Vor ungefähr vierzig Jahren wollte ich Bilder malen, und zwar mit Licht, das sich langsam verändert. Das sollten Gemälde sein, die ein bisschen so sind wie Musik."
Eno, einst Mitglied der Glamrock-Band Roxy Music, interessierte sich schon lange für Fluxus und Amerikanische Avantgarde-Komponisten, als er 1978 sein Meisterwerk "Music for Airports" veröffentlichte. Damit erfand er gleich ein ganz neues Genre: Ambient. "Ich wollte langsame Musik machen, die mehr wie Malerei ist." Diese neuen, fremdartigen Klänge fanden sofort begeisterte Anhänger und Nachahmer. Seither arbeitet Eno daran, mit audiovisuellen Installationen das Gehör und den Gesichtssinn einander anzunähern, so auch in "Empty Formalism".
Mittwochmorgen: "Das funktioniert noch nicht ganz", dachte der Komponist. Er schrieb alles um. Wobei, von schreiben eigentlich nur bedingt die Rede sein kann. Eno sei eher ein Gärtner, sagt er. "Beim Gärtnern plant man etwas, man pflanzt es an, und schaut, was herauskommt."
Eno benutzt eine Software, der er eine Melodie vorgibt und ein paar Regeln. Er erlaubt dem Computer Abweichungen: In 15 Prozent der Fälle darf diese Note eine Oktave höher sein, in 20 Prozent der Fälle jene eine Oktave tiefer, beispielsweise. Die Regeln werden dabei immer komplexer, die Stücke sind potentiell unendlich lang.
Das Gleiche gilt übrigens auch für die sechs Projektionen, die "Empty Formalism" zu einer immersiven Installation machen: Dabei sind nur Kreise und rechteckige Farbfelder vorgegeben, alles weitere entsteht nach vorgegebenen Wahrscheinlichkeiten. Diese Idee ist alt und Eno hat sie von den Fluxus-Künstlern der 60er, die für ihre Performances zunächst eine Reihe von Regeln festlegten, die dann Missverständnisse und Variationen erlauben.
Der vierte Versuch von "Empty Formalism", so stellte sich im Laufe des Mittwochs heraus, war auch eine Sackgasse. Was man am Donnerstag in der großen Halle hörte, war die fünfte Version, 45 Minuten lang. Das Atrium ist dunkel, nur die Konstruktion in der Mitte ist von langsam wechselnden Farbverläufen erleuchtet. Die Zuhörer sind ergriffen, und die meisten sitzen im Schneidersitz auf dem Boden. Einige scheinen mit geschlossenen Augen zu meditieren. Ein Soundteppich, gelegentlich sanft aufgestört von synthetischen Vibraphonen: Es ist ein einziges Lauschen.
"Die Idee ist, dass sich etwas von alleine baut." Von unten nach oben gedacht, sagt Eno, lässt sich dieses Verfahren als eine politisches Experiment lesen, wie ein idealer Staat im Kleinformat. Aus wenigen Vorgaben und vielen Abweichungen wächst ein Werk. Zunächst kontrolliert hier aber nur Brian Eno, danach die Software. Die Besucher müssen einfach in die Komfortzone eintreten. Freilich ist die Installation verführerisch schön. Aber ein Verdacht: Enos Utopie dient vor allem dazu, die Außenwelt zu vergessen, und die Technologie hilft, die Erfahrung ihres Wesens zu verhindern. Gibt es einen intellektuellen Zugriff zu der Arbeit oder muss man sie einfach nur fühlen? "Beides geht. Ich versuche einen seelischen Zustand herzustellen. Einen Ort im Geist, wo die Menschen sich am Dasein erfreuen können."