Paris (dpa) – Mammutsonnenblumen aus Gips, schiefe Türme und riesige Tafelbilder, in denen die Sonne explodiert und die Erde einstürzt: Werke in gigantischen Dimensionen, die Anselm Kiefer in seinem Atelier bei Paris lagert. Den Ort seiner Kreativität muss man sich erlaufen. Mit über 35 000 Quadratmetern ist seine Werk- und Wirkungsstätte fast dreimal so groß wie etwa die Dependance des Centre Pompidou in Metz. In dem 20 Kilometer östlich der französischen Hauptstadt liegenden Croissy-Beaubourg arbeitet der Maler und Bildhauer an der jüngsten Geschichte Deutschlands, ihren Mythen – und an seinem eigenen Mythos.
Kiefer, der am Sonntag (8. März) 70 Jahre alt wird, verkörpert den deutschen Künstler par excellence: Er gilt als Grübler, Einzelgänger, Denker und teutonischer Vergangenheitsbewältiger. Seine grauen, mit Asche und Stroh bedeckten skulpturalen Landschaftsbilder, seine in Gipsmäntel gehüllten Sonnenblumen und Bleibücher haben immer etwas mit Zerstörung, Chaos und Katastrophen zu tun.
Die ehemaligen Lagerhallen in Croissy-Beaubourg hat Kiefer 2008 gekauft. Die Türen zu seinem Atelier öffnet er selten. Im Rahmen seiner Vortragsreihe vor rund vier Jahren im renommierten Pariser Forschungsinstitut Collège de France machte der Maler jedoch eine erinnerungswürdige Ausnahme. Er lud seine Hörer, darunter zahlreiche Medienvertreter, ein – ein Privileg.
«Hier gehen Sie in meinen Gehirnwindungen spazieren», begrüßte der Künstler damals, umringt von seinen überdimensionalen Bildern, die Besucher. Kiefer sprach Französisch, die Sprache seiner Wahlheimat, was es nicht einfacher macht, seinen Ausführungen über «Putrefactio» und «Coagulatio», Verwesung und Gerinnung in seinem künstlerischen Schöpfungsprozess, zu folgen. Der im badischen Donaueschingen kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs geborene Maler gilt in Frankreich als intellektueller Meister aus Deutschland. In dieser Rolle wurde er als erster bildender Künstler an das Collège de France gerufen, wo vor ihm Roland Barthes und Claude Lévi-Strauss lehrten, zwei der bedeutendsten Köpfe Frankreichs.
Ruinen nationalsozialistischer Bauten, nordische Mythen, Hermannsschlacht oder Deutschlands Geisteshelden: Kiefers Motive sorgten in Deutschland jahrzehntelang für kontroverse Diskussionen. Als ästhetische Faszination des Faschismus und Wiederbelebung altgermanischer Mythen wurden sie von manchen Kritikern verurteilt, darunter auch dem bekannten Kunsthistoriker Werner Spies. Noch bis in die 80er Jahre hinein warf Spies ihm eine «Überdosis an Teutschem» vor. Als Kiefer 2008 als erster bildender Künstler mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, hielt Spies die Laudatio auf den Schüler von Joseph Beuys.
Kiefer wurde am 8. März 1945 im Keller eines Krankenhauses geboren. Biografisches darf man in den mit Blei und Flammenwerfer bearbeiteten Trümmerbildern jedoch nicht sehen. Er habe die Symbole des Terrorregimes auf diese Weise entmystifiziert, klärte er die Öffentlichkeit auf. Seine Werke seien intellektuelle Konstruktionen, wie der «Denker der Kunst» präzisierte. Der Fernsehsender «Arte» hatte ihn vor wenigen Jahre so getauft.
In London gab es im vergangenen Jahr eine Kiefer-Retrospektive, die auch sein Frühwerk zeigte. Leinwände, auf denen ein junger Mann die Hand zum Hitlergruß erhebt. Es sind Selbstporträts, die Ende der 60er Jahre entstanden sind. Damals reiste Kiefer nach Italien und Frankreich und ließ sich mit Faschistengruß vor Denkmälern und in menschenleerer Landschaft fotografieren. Die «Heroischen Sinnbilder» wurden in Deutschland erstmals 2008 gezeigt. Niemand hatte gewagt, sie früher auszustellen.
Seit etwa 14 Jahren lebt Kiefer nun in Frankreich. Dort wurde er mit offenen Armen aufgenommen. Kein Geringerer als der damalige Kulturminister Jack Lang half ihm, in der Nähe von Nîmes sein erstes Atelier zu finden, eine 35 Hektar große ehemalige Seidenfabrik in Barjac. Windschiefe Türme, Grotten, unterirdische Tunnel, ein Amphitheater mit Krypta und bunkerartige Häuser hat er dort errichtet, eine Fantasie- und Geisterstadt.
Mit dem räumlichen Abstand zu Deutschland hat sich seine Fixierung auf das Trauma der nationalsozialistischen Vergangenheit etwas gelegt. Er hat seine Motive um den Kosmos erweitert, nach dem auch Kiefer mit seinen gigantomanischen Werken immer mehr zu streben scheint. (Sabine Glaubitz, dpa)
Anselm Kiefer wird 70