Vor 50 Jahren starb der Fotograf, der wie kaum ein anderer unser heutiges Verständnis von moderner Fotografie prägte. Vor allem etablierte er, dass auch dieses damals noch junge Medium eine Kunstform sein kann. Eine, die uns nicht nur ein Bild davon geben kann, wie die Dinge sind, sondern auch, wie sie sein könnten. Edward Steichens weltbekannte Wanderausstellung "The Family of Man" hatte diesen Anspruch und musste sich den Vorwurf gefallen lassen, einen oberflächlichen, konservativen Humanismus zu vertreten.
Dieses Urteil begleitet Steichen Werk noch lange nach seinem Tod und ignoriert dabei, dass dieser ein Kämpfer für Pazifismus, Menschenrechte, Bürgerrechte, Feminismus und Emanzipation war. Und ein Blick in seine Biografie sowie ein Gespräch mit einem "Steichen-Experten" zeigen, dass diese Begriffe für den Künstler weder billige Plattitüden noch Worthülsen waren.
Ganz oben, in einem ehemaligen Wasserturm im luxemburgischen Düdelingen, befindet sich seit 2012 dauerhaft die letzte Ausstellung "The Bitter Years" von Edward Steichen, die im Museum of Modern Art 1962 gezeigt wurde. Derzeit wird sie allerdings analysiert und ist für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Es sind Fotografien aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise, Bilder von verschiedener Fotografinnen und Fotografen der damaligen Zeit. Steichen als Kurator hatte daraus ein Gesamtwerk für die Nachwelt geschaffen. Verortet sind die Bilder in der "Dust Bowl". So wurden die Great Plains im amerikanischen Mittleren West genannt.
Ein Vermächtnis über die Ausbeutung von Ressourcen
Zu der Zeit wurde die Region von Staubstürmen und einer Dürre-Phase heimgesucht. Die Umgestaltung der Natur, um dadurch die Böden für die industrielle Landwirtschaft urbar zu machen, erzeugten fatale klimatische Auswirkungen. "The Bitter Years" war deswegen in Steichens Schaffen der Teil seines künstlerischen Vermächtnisses, das neben ökonomisch-gesellschaftlichen Fragen auch die Zerstörung und Ausbeutung natürlicher Ressourcen behandelte.
Der luxemburgisch-US-amerikanische Fotograf ist einer der bedeutendsten Vertreter seines Mediums im 20. Jahrhundert. Steichen wurde am 27. März 1879 im luxemburgischen Bivingen geboren und starb 1973 in Conneticut. 1881 emigrierte seine Familie in die USA, seine Mutter Marie folgte dem Vater nach Milwaukee. Sie selbst baute dort später einen Hutmacherladen mit zehn Angestellten auf. Ihr Tatendrang, aber auch ihr für die damalige Zeit fortschrittliches Denken waren richtungsweisend für die Persönlichkeitsentwicklung des jungen Edward.
Steichen war Autodidakt. Er machte eine Ausbildung in einer Setzerei und kam später auch mit Design in Kontakt. Er brachte sich die Fotografie selbst bei, und sein Talent zeigte sich so unmittelbar, dass er mit 19 Jahren schon erste Preise für seine Aufnahmen gewann. Steichens Weg umfasst viele Stationen: vom Maler, Piktografen, Kriegsfotografen, Modefotografen bis hin zum Kurator wegweisender Ausstellungen. Dabei zeigt sich auch seine Offenheit, sich zeitlebens in verschiedenen Welten zu bewegen.
Macht die "Vogue" zu einem Louvre
Er reiste 1900 nach Europa und freundete sich dort etwa mit Pablo Picasso an. Später, in New York, gründete er ein Porträtstudio. Er stieg zum bestbezahlten "Promi-Fotograf" seiner Generation auf. Vor seiner Linse standen unter anderem die Hollywood-Ikone Greta Garbo oder der Industrielle J.P. Morgan. Aber auch Flugpionierin Amelia Earhart und der afroamerikanische Schauspieler und Bürgerrechtler Paul Robeson. Steichen arbeitete zudem auch für die Modemagazine "Vogue" und "Vanity Fair". Für das Museum of Modern Art in New York kuratierte er die Anti-Atomkrieg-Ausstellung "The Family of Man". Die Wander-Schau wurde von mehr als neun Millionen Menschen besucht.
Sein Œuvre zeigt viele Kontraste auf, die auch immer eine kritische Rezeption hervorbrachten. Einer, der sich damit eingehend beschäftigt hat, ist Gerd Hurm, geboren 1958. Er ist Professor für amerikanische Literatur und Kultur sowie Leiter des Zentrums für Amerikastudien an der Universität Trier. 2018 war er Mitherausgeber des Sammelbands "The Family of Man Revisited: Photography in a Global Age", und 2019 erschien eine von ihm verfasste Biografie über Edward Steichen.
In Hurms Buch wird auch thematisiert, dass dem Fotografen lange vorgehalten wurde, dass seine Arbeiten für diverse Modemagazine lediglich von kommerzieller Natur gewesen seien und keinen künstlerischen Wert gehabt hätten. Wie Steichen selbst über diesen Diskurs schon 1926 dachte, lässt sich an folgendem Zitat erkennen: "Es gibt einige Kunstwerke im Louvre, die, würden sie in einer Peepshow präsentiert, als pornografisch verurteilt würden. Im Louvre sind sie Kunst ‒ macht die 'Vogue' zu einem Louvre."
Meisterwerk mit Milchflasche
Wie aus Gerd Hurms Steichen-Biografie hervorgeht, drückt sich hier dessen Kampf für die Anerkennung des neuen Mediums Fotografie als Kunst aus. Damals in den 1920ern ging es ihm darum, den Kunstbegriff zu erweitern. Steichen leistete dabei einen avantgardistischen Beitrag zu einer Neudefinition von dem, was als moderne Kunst verstanden wurde.
Steichen selbst betrat dabei als Maler und Fotograf neue Wege. Er verwendet dabei kubistische, wie auch geometrische Elemente und Fragmentierungen, wie in seinem Ölgemälde "Le Tournesol" aus dem Jahre 1920 zu sehen ist. Viele seiner Arbeiten beschäftigten sich damit, die Schönheit des Alltags wie auch von Hand- und Hausarbeit im Stile von modernistischen Nahaufnahmen hervorzuheben. Gut zu erkennen ist dies in der 1915 geschaffenen Fotografie "Milk Bottles: Spring, New York". Es gilt bis heute wegen seiner außergewöhnlichen Ästhetik als Meisterwerk der modernen Fotografie. Was auch die Schriftstellerin Susan Sontag, eine harte Kritikerin von Steichens Werk, in ihrer Essaysammlung "On Photography" von 1977 anerkannte.
Hurm, der aus Freiburg kommt, sah die Ausstellung "The Family of Man" erstmals in Trier. Seine Frau, eine Amateurfotografin, machte den Vorschlag, sie nochmals im luxemburgischen Clervaux zu besuchen. Hurm sagt, er sei froh, dass er die Schau zuerst gesehen und sich erst dann mit den Diskursen dazu beschäftigt habe. “Ich war fasziniert, und ich glaube, was diese Ausstellung nach wie vor so modern macht, ist dieses Partizipative - man taucht hinein und man kann seine Bildwelt selber zusammenstellen."
Sind Pressefotos niemals Kunst?
Die zeitgenössische Rezeption von "The Family of Man" ist bis heute von der Kritik des französischen Philosophen, Autors und Literaturkritikers Roland Barthes geprägt. In seiner bekannten Schrift "Mythen des Alltags" macht er der Ausstellung den Vorwurf, dass sie die Geschichte der Natur einer Unveränderbarkeit unterwarf, anstatt sie als veränderbar marxistisch-dialektisch zu deuten. Barthes war damals von Bertolt Brechts Verfremdungseffekt geprägt. Auf dieser Basis versuchte er, aus seiner Sicht unwichtige Details zu identifizieren, die er in der Ausstellung darin sah, dass sie auf problematische Weise die Menschheit mystifiziere. Den Humanismus, den Barthes in der Ausstellung vorfand, deutete er als sentimentalen Kitsch und politisch reaktionär. Er sah in der Ausstellung kein eigenständiges Kunstwerk, und nach seiner Meinung konnten Pressefotos niemals Kunst sein.
Laut Gerd Hurm wurde in den vergangenen Jahrzehnten die Deutung Barthes’ scharf kritisiert und größtenteils auch widerlegt. Zuerst ignoriert Barthes die pazifistische Haltung Steichens und seine Kritik an Atomwaffen. Schon 1916 schrieb dieser in einen Brief an seine Schwester Lilian Steichen einen fiktiven Appell an Kolleginnen und Kollegen in der Kunstszene. In Anlehnung an Karl Marx sagte er selbst: "Künstler vereinigt Euch, Ihr habt nichts zu verlieren außer Eurem erbärmlichen egoistischen Selbst."
Die Kunstschaffenden sollten sich zusammenschließen und sich vereint gegen das Massenmorden auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs stellen. Und mit "The Family of Man" setzte sich Steichen 1955 zusammen mit der kollektiven Kreativität von 270 Fotografinnen und Fotografen im Kalten Krieg gegen die drohende nukleare Katastrophe und für den Weltfrieden ein. Vor allem seine Zeilen an seine Schwester lassen erkennen, dass Steichens künstlerisches Handeln mehr oder weniger immer auch politisch motiviert war. Lilian Steichen war schon früh in seinem Leben eine weltanschauliche Ratgeberin. Dies zeigt auch einen zweiten wunden Punkt in der Kritik von Barthes, nämlich Steichens fortschrittliche Deutung der Frauenrechtsfrage wie auch seinen Einsatz für Bürgerrechte.
Hommage an ein feministisches Erbe
Auf sein Leben übten zwei Frauen besonders viel Einfluss aus: Seine Mutter Marie und seine Schwester Lilian. Der Haushalt der Steichens war sozialistisch geprägt. Der Ausstellungstitel "The Family of Man" beispielsweise geht möglicherweise auf die protofeministische "Declaration of Sentiments" von Seneca Falls aus dem Jahr 1848 zurück. In besagtem Ort im Bundesstaat New York fand eine der ersten Konferenzen für Frauenrechte statt. In der Erklärung, die von Männern und Frauen gleichermaßen unterschrieben wurden, wurde die Gleichberechtigung der Geschlechter wie auch das Wahlrecht eingefordert.
In der Erklärung stand, dass die "Familie des Menschen" garantiere, dass alle Frauen und Männer gleich geschaffen seien. Und Edward Steichens Mutter und seine Schwester waren engagierte Aktivistinnen, die die Politik ihrer feministischen Vormütter lebendig hielten und so auch den jungen Edward prägten. Roland Barthes übersah die Namensherkunft wohl aus historischer Unwissenheit und behauptete, die Familie des Menschen sei ein Begriff aus der Zoologie.
Auch das in der Ausstellung Bilder aus der Türkei, China, Frankreich und Japan gezeigt werden, auf denen Wählerinnen stolz ihre Stimmzettel in Urnen stecken, ist eine Hommage an das feministische Erbe, das ihm zu Hause vermittelt wurde. Lilian Steichen erkannte früh das Potenzial ihres Bruders. Sie selbst schloss 1903 ihr Studium an der University of Chicago mit einem Bachelor of Philosophy ab. Gleichzeitig wurde sie in der Sozialistischen Partei aktiv, und durch ihre Arbeit in der Bewegung lernte sie den bekannten Dichter Carl Sandburg kennen. Lilian brachte ihren Bruder zudem in intellektuelle Kreise hinein, erweiterte somit auch sein Netzwerk an bekannten Persönlichkeiten und ermutigte ihn zu Reisen nach Europa. Sie überzeugte ihn, am ersten internationalen Sozialistenkongress in Stuttgart 1907 teilzunehmen. Dort fotografierte er unter anderem August Bebel, Jean Jaurés und Karl Liebknecht.
"Ich kannte ihn kaum, aber er war der beste Freund"
Weitere Ignoranz oder Unwissenheit zeigt sich bei Barthes, indem er Steichen vorwarf, partikulare Einzelschicksale in der Ausstellung bewusst ausgelassen zu haben. Der Philosoph fragt suggestiv wie wohl afroamerikanische Opfer von rassistischem Lynchterror auf die Bilder in der Ausstellung reagiert hätten Auch diese Analyse verkennt Steichen Unterstützung für die Bürgerrechtsbewegung in den USA, erklärt Gerd Hurm. Dieser bedauert zudem, dass in der Steichen-Rezeption immer noch Barthes als Gewährsmann genommen wird. "Man könnte ja auch Angela Davis nehmen, eine Ikone der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung, die ihr Studierzimmer mit Bildern aus der 'Family of Man' tapezierte, oder die Bürgerrechtsorganisation National Urban League, die ihn mit Lob überschüttet haben."
Steichen war zudem Vorsitzender der Kommission gegen die Diskriminierung afroamerikanischer Fotografen und förderte Roy deCarava, einen der bedeutendsten afroamerikanischen Fotografen, durch die Unterstützung für ein Guggenheim-Stipendium. Laut Hurm könne niemand heutzutage behaupten, “für Steichen hätte 'Black Photographers matter' nicht gegolten”.
Auch Consuelo Kanagas herausragendes Porträts der afroamerikanischen Mutterschaft sowie andere ähnliche Darstellungen in 'The Family of Man' erinnern das Publikum an teils widersprüchliche Aspekte von Familie und Frauenrechten. Steichen gab zu Protokoll, dass Kanagas Bilder für ihn die bevorzugte Fotografie der gesamten Ausstellung war. Seine liberale Einstellung wurde damals von Kolleginnen lobend anerkannt. Kanaga selbst sagte über Steichen, dass er ihre Kunst in mutiger Absicht der Öffentlichkeit präsentierte. Die damals wenig bekannte, politisch linksorientierte Fotografin sagte zudem über Steichen: "Ich kannte ihn kaum, aber er war der beste Freund (für mein ganzes Ich, einschließlich meiner Arbeit), den ich je hatte"
"Komplexe anthropologische Vielfalt"
Was Roland Barthes angeht, kritisierte Kunsthistorikerin Ariella Azoulay 2013 seine dominante Deutung von Steichens Œuvre. Er würde die vielen verschiedenen Aspekte der Ausstellung nicht berücksichtigen und zudem seiner eigenen Theorie widersprechen, da er die Aussage der Ausstellung nur auf die Intentionen des Künstlers verkürze. Die Barthes-Forscherin Jaqueline Guittard hatte 2006 sogar den Verdacht, dass Roland Barthes die Ausstellung gar nicht besucht hat.
In Bezug auf Edward Steichen ist auch die positive Rezeption vom einem der Köpfe der Frankfurter Schule, Max Horkheimer, hervorzuheben.1958, bei seiner Eröffnungsrede der "Family of Man"-Wanderausstellung in Frankfurt am Main, wies Horkheimer auf die sinnliche Vollkommenheit und die holistische Ästhetik der Bilder hin, welche eine komplexe anthropologische Vielfalt darstellen. er drückte dies in folgenden Worten aus:
"Die einzelnen Stücke beanspruchen nicht so sehr, ästhetische Werke zu sein als Entdeckungen. Sie zeigen, was jeder sieht, ohne daß er seiner inne wird. Indem sie den Blick auf das bekannte Unbekannte hinlenken, bringen sie den Beschauer in ein neues, zarteres Verhältnis zu den Dingen. Wer einmal auf solche Weise sehen gelernt hat, dessen Sinne sind nicht mehr bloß auf Zwecke abgestellt, sie sind eigentümlich verändert und geschärft, er wird in Zukunft anders, eindringlicher und vielfältiger sehen, als bis dahin. Das hat die Ausstellung in der Tat mit wirklichen Künstlern gemein, daß sie der Wahrnehmung eine neue Richtung weist, die nicht mehr verlernt wird, wie wenig sich auch damit anfangen läßt."
Wir schauen nur und sehen nicht
Steichen war sich zudem bewusst, wie wirkmächtig das Medium Fotografie sein kann und welche Rolle dabei dessen Urheberinnen und Urhebern zugesprochen wird. Dahingehend nahm Steichen schon im Jahr 1903 eine konstruktivistische Position ein. Folgendes Zitat von ihm aus der Fotografie Zeitschrift "Camera Work" verdeutlicht seine Position: "Every photograph is a fake from start to finish."
Bei näherer Betrachtung von Barthes' Kritik an Steichen und seiner Bezugnahme auf Brechts Verfremdungseffekt ignoriert Barthes gerade diese Haltung des Fotografen. Denn das konstruktivistische Momentum, das der "Family of Man" innewohnt, macht diese entgegen der Behauptung nicht belanglos. Ganz im Gegenteil können die von Barthes nicht als Kunst angesehenen Pressefotografien, je nachdem, wie sie in einer Ausstellung zusammengestellt werden, wie ein episches Gesamtkunstwerk wirken. Und somit auch beim Publikum einen Verfremdungseffekt haben, wie es Brecht auch beim Epischen Theater vorschwebt.
Wer den Menschen Steichen noch besser kennenlernen möchte, dem hilft die Biographie von Gerd Hurm. Und wer den Künstler Steichen verstehen will, sollte unbedingt die beiden Ausstellungen, "The Bitter Years" und "The Family of Man" besuchen. Außerdem sind Werke des Fotografen gerade auch im Nationalmuseum in Luxemburg zu sehen. Roland Barthes hat uns gezeigt, was passieren kann, wenn wir das Werk von Künstlerinnen oder Künstlern nicht vollumfänglich betrachten. Es passiert genau das Gegenteil von dem, was Kunst uns eigentlich vermitteln möchte. Um es mit den Worten des sowjetischen Regisseurs Andrei Arsenjewitsch Tarkowski zu beschreiben: Dann schauen wir nur, aber wir sehen nicht.