Eadward Muybridge war nicht sein richtiger Name. Der Mann, der vor 190 Jahren, am 9. April 1830 als Edward James Muggeridge bei London geboren wurde und in den USA eine einzigartige Karriere als Fotograf machte, hatte viele Namen. Zeitweise nannte er sich Helios, wie der griechische Sonnengott, und signierte seine Fotos mit diesem Schriftzug. An Selbstbewusstsein mangelte es Muybridge ebensowenig wie an Ideen. Er lebte viele Leben. Seine Biografin Marta Braun bezeichnete Muybridge als "Fotografen, Selbstdarsteller, Entertainer, Vortragsreisenden, Animationskünstler, Unternehmer, Erfinder, Venture Capitalist und Mörder".
Als junger Mann wanderte Muybridge nach Amerika aus. Mitte der 1850er war er in San Francisco zunächst als Buchhändler tätig. 1860 zog er sich bei einem Postkutschen-Unglück eine schwere Kopfverletzung zu, die Muybridge in England auskurierte. Dort kam er vermutlich zwischen 1861 und 1866 mit der Fotografie in Berührung, der Verlauf seiner handwerklichen Ausbildung liegt allerdings im Dunkeln.
Im Februar 1867 kehrte er nach San Francisco zurück – und hatte sich stark verändert. Freunde und Bekannte berichteten, wie der sympathische Geschäftsmann zum exzentrischen, mitunter cholerischen Künstler mutiert war. Mediziner vermuten heute, dass die Hirnverletzungen zu Muybridges Kreativitätsschub und gleichzeitig zu antisozialem Verhalten führte. 1874 erschoss Muybridge den Liebhaber seiner Frau, wurde vor Gericht aber freigesprochen – es war der letzte Fall in Kalifornien, bei denen ein Täter trotz zugegebener Schuld aufgrund von justifiable homicide (entschuldbarem Totschlag) auf freien Fuß gesetzt wurde.
Das fliegende Studio des Helios
In England hatte sich Muybridge offenbar die fotografische Technik des Nassplatten-Kollodiumverfahrens angeeignet und sich ästhetisch von britischen Fotografinnen und Fotografen wie Julia Margaret Cameron, Lewis Caroll und Roger Fenton inspirieren lassen. In Kalifornien baute er eine Einspänner-Kutsche zu einer mobilen Dunkelkammer um – "Helios' Flying Studio" – und mauserte sich zum erfolgreichen Lichtbildner, wobei er sich hauptsächlich auf Landschafts- und Architekturthemen konzentrierte. Neben seinen Naturaufnahmen in Yosemite Valley wurden Muybridges Stadtansichten von San Francisco legendär, darunter ein 360-Grad-Panorama von 1878 aus 13 zusammengesetzten Teilaufnahmen: ein unschätzbares Dokument des Stadtbilds vor dem großen Erdbeben von 1906.
Seine bedeutendste technische Innovation geht auf eine historische Debatte um den Bewegungsablauf trabender Pferde zurück. Muybridge konnte nachweisen, dass es einen Moment gibt, in dem alle Läufe des trabenden Pferdes ohne Bodenkontakt sind, indem er einen Parcours mit mehreren Kameras bepflanzte, diese kurz nacheinander auslöste und somit erstmals Bewegungssequenzen fotografieren konnte. Andere Muybridge-Studien belegten, dass der "Fliegende Galopp" abgesehen von Hindernissprüngen ein Ding der Unmöglichkeit war. Seit Jahrhunderten wurden galoppierende Pferde so gemalt, dass sowohl die Vorder- als auch Hinterbeine des Pferdes ausgestreckt sind und den Boden nicht berühren. Eine unrealistische Darstellung, wie Muybridge erstmals zeigte.
Muybridge beeinflusste auch "Matrix"
Die Bewegungsstudien wurden zur Spezialität des Fotografen, er schuf tausende solcher Sequenzen, bis heute werden seine Bücher "Animals in Motion" (1899) und "The Human Figure in Motion" (1901) nachgedruckt. Seine Analyse von Bewegungen verhalf gleichzeitig zu ihrer Synthetisierung: Indem er mit dem Zoopraxiskop einen Vorläufer des Filmprojektors entwickelte, hat Muybridge auch für die Entwicklung der Filmtechnologie wertvolle Pionierarbeit geleistet. In Filmen wie "Matrix" wurden mehrere Kameras später für den gegenteiligen Effekt des Einfrierens genutzt. Spezialeffekt-Mann Tim MacMillan berief sich bei der sogenannten "Bullet-Time-Technik", die Kamerafahrten bei stillgestellter oder verlangsamter Bewegung der Darsteller und Objekte ermöglicht, auf Muybridges Analyseverfahren.
Kein anderer Fotograf hat die bildende Kunst so inspiriert wie Muybridge. Darunter nicht nur Zeitgenossen wie die Maler Thomas Eakins oder Edgar Degas. 1912 malte Marcel Duchamp seinen berühmten "Akt die Treppe herabsteigend", in dem sich Bewegungsphasen zu überlagern schienen, wobei die vermeintliche Figur allerdings stark abstrahiert dargestellt ist. Neben Muybridges Werk kannte Duchamp auch die Arbeiten des Franzosen Étienne-Jules Marey, der etwa zeitgleich mit dem Briten Bewegungen fotografisch festgehalten hatte – wobei sich die Phasen bei Marey simultan in einem Bild überlagern.
Für den britischen Künstler Francis Bacon zählten die Studien seines Landsmanns zu wichtigen Quellen. 1965 malte Bacon das Großformat "From Muybridge 'The human Figure in Motion: Woman Emptying a Bowl of Water/Paralytic Child Walking on All Fours’". Auch das bei Bacon homoerotisch konnotierte Motiv der Ringer stammt von einer Muybridge-Bewegungsstudie. Der US-Minimalist Sol LeWitt interessierte sich besonders für das serielle Prinzip bei dem Fotopionier und würdigte den Fotografen mit Werken wie "Muybridge I and II" (1964). Auch in der digitalen Bildwelt ist Muybridge sehr präsent. Seine Bewegungstudien sind wie gemacht für Gifs und werden immer wieder zu solchen umgewandelt.
Als Landschaftsfotograf ist Muybridge lange unterschätzt worden. Erst im 21. Jahrhundert hat sich die Kunstwissenschaft für diesen Aspekt seiner Arbeit interessiert. Mit "River of Shadows: Eadweard Muybridge and the Technological Wild West" hat die Kunsthistorikerin Rebecca Solnit 2003 ein Buch veröffentlicht, das Muybridge in den Kontext einer sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts radikal verändernden Landschaft des amerikanischen Westens stellt. Solnit zieht Verbindungslinien zwischen den Umbrüchen des 19. Jahrhunderts bis zu Hollywood und Silicon Valley. Die Autorin unterstreicht die historische Bedeutung des Erfinders und Fotografen Eadweard Muybridge: unter vielen Aspekten eine Schlüsselfigur der Moderne.