Im Sommer 1955 blühte das kriegsversehrte Kassel buchstäblich auf. In der Aue fand die Bundesgartenschau statt, in der Ruine des Fridericianums wurde die erste Ausgabe der Documenta gezeigt, die den Zeitgeist dokumentieren wollte und sich der Rehabilitierung der vom NS-Regime verfemten modernen Kunst des frühen 20. Jahrhunderts verschrieben hatte. Die Schau zählt zu den spannendsten Ausstellungen der Kunstgeschichte, und heute ist die Documenta mit ihren bislang 14 Ausgaben die wohl meistdiskutierte, vielseitigste und einflussreichste Kunstschau der Welt.
Die erste Documenta gilt als Gründungsmanifest einer neuen demokratischen Moderne in Westdeutschland und spiegelt auf vielfältige Art die Geschichte der Bundesrepublik. Doch der Mythos von der "Stunde Null" in der Nachkriegskunst wird zunehmend hinterfragt. Neuere Forschungen haben enthüllt, dass es mehr Kontinuitäten mit der NS-Zeit gibt als bisher angenommen. So waren wichtige Ausstellungsmacher um den Documenta-Gründer Arnold Bode NSDAP-Mitglieder, allen voran der Kunsthistoriker und spätere Direktor der Neuen Nationalgalerie in Berlin Werner Haftmann, der die ersten drei Ausgaben der Weltkunstschau maßgeblich prägte - und der nach neuen Erkenntnissen wohl auch SA-Mann war.
Über diese Ambivalenz zwischen Aufbruch und Kontinuitäten mit der Vergangenheit bei der frühen Documenta sprechen wir auch in der neuen Folge des Monopol-Podcasts "Kunst und Leben" in Kooperation mit Detektor FM. Neben den Biografien der Mitstreiter von Documenta-Gründervater Arnold Bode (selbst Sozialdemokrat und von den Nationalsozialisten als "entarteter Künstler" verunglimpft), geht es in der derzeitigen Diskussion auch um ein "entschärftes" Bild der deutschen Moderne, das unter anderem auf der Documenta 1 präsentiert wurde.
Was ist zu sehen, was fehlt?
Wie Historikerinnen und Historiker erklären, setzte Haftmann auf die Rehabilitierung der deutschen Expressionisten, deren Kunst von den Nazis diffamiert wurde, die aber laut seiner Darstellung in innerer Emigration im Untergrund weiterarbeiteten. Spätestens seit der Ausstellung "Emil Nolde: Eine Deutsche Legende - Der Künstler im Nationalsozialismus" im Hamburger Bahnhof in Berlin 2019 ist klar, dass dies ein Mythos ist. Und dass Haftmann eine wichtige Rolle dabei spielte, Noldes Sympathie für die Nazis im Nachhinein zu relativieren. Während die Ausstellung in Kassel für viele Besucherinnen und Besucher die erste Begegnung mit einer positiven Darstellung der Vorkriegs-Moderne war, fehlten gerade die jüdischen Künstler, die am meisten unter der Verfolgung durch die Nazis gelitten hatten oder gar getötet worden waren.
Wie das Narrativ von widerständigen deutschen Künstlern geschaffen wurde und wie die Documenta ihre eigene Geschichte aufarbeitet, darüber spricht Detektor.Fm-Moderatorin Sara Steinert in dieser Podcast-Folge mit der Monopol-Chefredakteurin Elke Buhr und der Monopol-Redakteurin Saskia Trebing, die 2020 mit Jens Hinrichsen einen großen Report über die NS-Verbindungen der Documenta geschrieben hat.
Zu hören ist außerdem der Co-Kurator der Documenta 14, Dieter Roelstraete, der 2017 den historischen Teil der Ausstellung verantwortet hat, und ein Gespräch mit der Kuratorin Julia Voss. Sie ist mitverantwortliche für die Ausstellung "Documenta. Politik und Kunst“ im Deutschen Historischen Museum Berlin, die sich mit der Documenta als zeitgeschichtliches Phänomen untersuchen.
Zum Anhören des Podcasts bitte hier Inhalte aktivieren.