Das Thema Verschiebung ist bei der Documenta offenbar ein sehr heikles. Im Januar hatte Generaldirektorin Sabine Schormann im "Deutschlandfunk" angedeutet, dass es sinnvoll sein könnte, aufgrund der damals noch sehr zugespitzten Corona-Lage und der weltweiten Reisebeschränkungen über eine Verschiebung um ein Jahr nachzudenken. Die Formulierung war äußerst vorsichtig gewählt - und der Gedanke angesichts der eifrigen Verlegungsaktivitäten in der internationalen Kulturszene keinesfalls weit hergeholt. Trotzdem verschickte die Documenta noch am selben Nachmittag eine Mitteilung, dass sie am geplanten Termin vom 18. Juni bis 25. September 2022 festhalten werde. Man kann es nachvollziehen: An der öffentlich finanzierten Weltkunstschau hängen ein riesiger logistischer und finanzieller Aufwand und natürlich auch eine Menge Bürokratie, Kassel-Tourismus und politisches Prestige. Besonders nach der finanziellen Bruchlandung der D14 wünschen sich sicher alle Beteiligten einen möglichst reibungslosen Ablauf.
Nun haben der Aufsichtsrat und die Gesellschafter der Documenta und Museum Fridericianum gGmbH mit ziemlich viel Pathos in einer Pressekonferenz bekannt gegeben, was eigentlich sowieso der offizielle Stand war: dass die Ausstellung wie geplant im kommenden Sommer stattfinden soll, je nach pandemischer Lage in verschiedenen Abstufungen. Das ist natürlich eine gute Nachricht für alle, die sich nächstes Jahr auf ein "Mini-Superkunstjahr" mit Weltkunstschau und Venedig-Biennale freuen. Und natürlich ist es mehr als wünschenswert, dass die Corona-Lage in knapp zwölf Monaten so weit unter Kontrolle ist, dass ein solches Event in einer angemessenen Form möglich ist. Die Documenta wolle ein Signal der Hoffnung in die Welt senden, sagte Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD). Mutig wolle man sein, aber nicht wagemutig.
Doch es regt sich auch der leise Zweifel, ob die D15 (angenommen, ab jetzt geht alles verhältnismäßig gut) das sein kann, was sie sein wollte. Die vom indonesischen Kunstkollektiv Ruangrupa kuratierte "Documenta Fifteen" sollte kein One-Summer-Stand sein, sondern Kassel schon vorher beleben und mit dem "Lumbung"-Programm, das für Großzügigkeit und Ressourcenteilung steht, Menschen aus der ganzen Welt zusammenbringen. Das an sich schon personenstarke Kuratorenteam hat neben einem "Artistic Team" viele weitere internationale Kollektive eingeladen, an "Lumbung" mitzuwirken und nicht nur Kunst, sondern auch Austausch und Erlebnisse zu schaffen.
Wegen der Corona-Einschränkungen ist davon bisher wenig passiert. Das bunt bemalte "RuruHaus" in der Kasseler Innenstadt war die meiste Zeit eher Geisterbau als lebendiges Kulturzentrum, die Online-Talks zu den Themen "Humor" und "Unabhängigkeit" (weitere werden noch folgen) waren, nun ja, Online-Talks eben, die für ein Zoom-müdes Publikum mit viereckigen Augen trotz interessanter Inhalte eher keine nachklingenden Erfahrungen darstellen.
Die großen Worte müssen nun gefüllt werden
Dass kommende Veranstaltungen wegen der noch immer geltenden Corona-Regeln klein ausfallen werden, muss gar kein Nachteil sein und kann sogar für mehr Intimität und Identifikation mit dem "Raumschiff Documenta" sorgen. Aber Ruangrupa haben immer wieder betont, dass der Kern ihrer Praxis - mehr noch als das Zeigen von Kunst - das Teilen ist. Und durch die pandemischen Umstände hat das Kollektiv bisher nicht die Möglichkeit bekommen, im Kontext der Documenta zu zeigen, was sie damit meinen. Wie der Herbst und der Winter werden, lässt sich jetzt noch nicht sagen, genauso wenig, inwieweit internationale Künstlerinnen und Künstler (gerade aus Ländern mit wenig Impfstoff) nach Kassel reisen können. Vielleicht hätte ein weiteres Jahr Zeit mehr Raum für Experimente und eine Annäherung an Kassel geöffnet und der Weltkunstschau, deren gesellschaftspolitische Bedeutung auf der Pressekonferenz fast ins Messianische aufgeblasen wurde, das Einlösen ihrer Versprechen erleichtert.
Insofern wird einer Documenta 2022 wohl immer die Fußnoten-Frage anhängen, was sie ohne Corona gewesen wäre. Aber vielleicht ist die Krise in diesem Fall tatsächlich die vielbeschworene Chance, denn nach Meinung von Expertinnen und Experten ist das "ohne Corona" in absehbarer Zeit ohnehin eine Illusion. Eine Post-Covid-Schau wird sich eher nicht wie vorherige Documenta-Ausgaben mit Gedanken an Wachstum und Besucherrekorde beschäftigen, sondern sich nach ihrer Essenz fragen.
Die Kunst hat gezeigt, dass sie ungeheuer anpassungsfähig ist, wenn sie die Mittel dazu bekommt, und Ruangrupa betonen in jedem zweiten Interview ihren Hang zur Improvisation. "Die Pandemie hat uns dazu gebracht, zu reflektieren, wie wir lokal aber trotzdem global verbunden sein können", sagte heute Ruangrupa-Mitglied Ade Darmawan. Diese Frage stellen sich gerade alle - und die Documenta-Kuratorinnen und Kuratoren haben nun nicht mehr allzu viel Zeit, um ihre Worte mit konkreten Inhalten zu füllen. Die "Lumbung"-Werte von Großzügigkeit und Gemeinschaft können jedenfalls gerade nicht schaden.