Neue Documenta-Leiterin

Die Kasseler Vertrauensfrage

Die Documenta 16 hat eine Kuratorin. Mit der Berufung der Guggenheim-Vizechefin Naomi Beckwith versucht die kriselnde Institution ein anspruchsvolles Kunststück: mit der unglücklichen letzten Ausgabe zu brechen und gleichzeitig an Unverzichtbares anzuschließen

Am Montag hat Noch-Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Bundestag die Vertrauensfrage gestellt. Doch die Antwort stand eigentlich schon vorher fest. Scholz spekulierte auf eine Ablehnung des Parlaments, um nach dem Zerbrechen der Ampel-Koalition den Weg für Neuwahlen im Februar 2025 freizumachen. Er wollte den Rückhalt der Abgeordneten also gar nicht. 

Ganz anders sah das am heutigen Mittwoch in Kassel aus. Im von der Polizei gesicherten Veranstaltungszentrum UK 14 unweit des Fridericianums wurde ebenfalls eine Art Vertrauensfrage gestellt. Denn die Documenta präsentierte nicht nur eine künstlerische Leitung für ihre kommende Ausgabe im Sommer 2027, die D16. Sie inszenierte die Berufung viel mehr als grundlegende Weichenstellung für die gesamte Institution. 

Einen Neustart kann die Weltkunstschau auf jeden Fall gut gebrauchen. Seit dem Antisemitismus-Eklat während der Documenta Fifteen 2022 steckt Deutschlands bekannteste Kulturmarke in einer tiefen Krise. Die heftigen Debatten um den Nahostkrieg seit dem 7. Oktober 2023 haben die Situation im Kunstbetrieb auch nicht gerade entspannt, und vor ziemlich genau einem Jahr brach die erste Findungskommission für die D16 unter neuen BDS-Vorwürfen zusammen. Manche Beobachter, so sagte es Hessens Kulturminister Timon Gremmels mit sichtlicher Genugtuung, hätten der Documenta schon "das Totenglöckchen geläutet".

Doch nun wird in Kassel ein ganz anderer Ton angeschlagen. Mit Naomi Beckwith wurde nur ein halbes Jahr nach der Berufung einer neuen Findungskommission eine künstlerische Leiterin vorgestellt. Der Termin 2027 soll trotz der verkürzten Vorbereitungszeit gehalten werden. Die Strukturen der Institution sind reformiert, der Bund ist zurück im Aufsichtsrat, und ein Code of Conduct für "humanistische Grundwerte" und gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit soll in Kürze vorgestellt werden. Hört man den politischen Teilhabern der Documenta zu, geht der Blick also streng nach vorn. "Wir haben zu keinem Zeitpunkt das Vertrauen in die Kunst verloren", sagte Kassels Oberbürgermeister Sven Schoeller von den Grünen. 

Eine zwingende Weiterführung des Documenta-Erbes

In der deutschen Öffentlichkeit würde wohl nicht jeder diesen Satz unterschreiben. Noch immer gibt es kaum eine Unterhaltung über Antisemitismus, in der nicht irgendwann das Wort Documenta fällt. Auch in der umstrittenen Resolution "Nie wieder ist jetzt – Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken", die Anfang November im Bundestag verabschiedet wurde, taucht Kassel als abschreckendes Beispiel auf. Und so geht es für die Ausstellung nun vor allem darum, ihre Reputation wieder aufzubauen, Vertrauen zurückzugewinnen und gleichzeitig ein Umfeld zu schaffen, in dem die künstlerische Freiheit für alle Beteiligten gewährleistet wird.

Diese Mammut-Aufgabe der US-Amerikanerin Naomi Beckwith zu übertragen, muss man als einen äußerst cleveren Zug der Findungskommission bezeichnen. Als Vizedirektorin des Guggenheim Museums in New York bringt sie internationales Renommee nach Hessen; ihre Nähe zum D11-Kurator Okwui Enwezor, mit dem sie die gefeierte Ausstellung "Grief and Grievance" im New Museum kuratierte und den sie als große Inspiration bezeichnet, macht sie fast zu einer zwingenden Bewahrerin und Erneuerin des Documenta-Erbes. Hier wird ein Staffelstab weitergegeben und damit eine unwiderstehliche Erzählung der Kontinuität etabliert.

Dass sie sich des historischen Gewichts ihrer Aufgabe durchaus bewusst ist, daran ließ die 48-Jährige keinen Zweifel. Gleichzeitig brachte sie zu ihrem ersten offiziellen Auftritt in Kassel so viel Leichtigkeit und Wärme mit, wie es beim Reizthema Documenta lange nicht mehr zu erleben war.

Eine klare Absage an das Ruangrupa-Experiment

Das heißt nicht, dass mit dieser Personalie irgendwie die Zeit zurückgedreht wird. Beckwith hat sich mit Ausstellungen einen Namen gemacht, die explizit politisch waren und sich mit Black Culture, Rassismus und globalen Verflechtungen beschäftigten. Das gerade gern verteufelte Thema Postkolonialismus ist also keineswegs vom Tisch. Vielmehr betonte die neue Kuratorin, dass die Documenta spätestens seit der Ausgabe von Catherine David 1997 immer aus möglichst unterschiedlichen Blickwinkeln auf die Welt geschaut hat. Dass mit Beckwith und der frisch berufenen Venedig-Chefin Koyo Kouoh nun zum ersten Mal zwei Schwarze Frauen an der Spitze der wichtigsten europäischen Kunstereignisse stehen, zeigt ebenfalls, wie sehr sich die Institutionen im Wandel befinden.

Und doch ist die Berufung eine klare Absage an alles, wofür die Documenta Fifteen des indonesischen Kollektivs Ruangrupa stand. Wir sind zurück bei einer einzelnen charismatischen Kuratorinnenfigur, die zwar selbst (noch) keine Berühmtheit ist, aber ein namhaftes, westlich geprägtes Museum im Rücken hat, das Autorität verleiht. Als Vizechefin des Guggenheim dürfte Beckwith im Konfliktmanagement geschult und an die Auseinandersetzungen mit der Politik und Geldgebern gewöhnt sein. Auch war das berühmte Haus bereits Bühne für Proteste von Aktivistinnen und Aktivisten - auch zum Thema Israel und Gaza. Dass sie sich in deutsche Grabenkämpfe und Boykottstrudel verwickeln lässt, liegt erst einmal nicht nahe. 

Freundlich-geduldig beantwortete Beckwith die Frage, wie sie erneuten Antisemitismus auf ihrer D16 verhindern wolle. Sie habe "absolut keine Toleranz" für Rassismus, Antisemitismus oder andere Formen von Diskriminierung - eine Aussage, an der sie zweifellos gemessen werden wird. Unfreiwillig komisch wurde es, als sie sagte, dass sie eine Ausstellung in engem Kontakt mit den Künstlerinnen und Künstlern entwickele und niemand eine halbe Stunde vorher mit einem Werk zu ihr komme. Genau das, das absichtliche Nicht-Kuratieren, war schließlich das kollektive Prinzip von Ruangrupa gewesen. 

"Tiefer Respekt" vor der Institution

Insofern kann man sagen, dass der klassische Kunstbetrieb nach dem experimentellen Gastspiel von 2022 ein Comeback feiert. Beckwith ist ein Profi, der sicherlich einen Anspruch auf Innovation hat, von dem aber nicht unbedingt zu erwarten ist, das ganze Konzept Großausstellung einreißen zu wollen. Nachdem Ruangrupa demonstrativ ihre langjährige Unkenntnis der Documenta vor sich hertrugen und implizit ihre Relevanz anzweifelten, betont Beckwith ihren tiefen Respekt gegenüber der Institution - ein gravierender Tonartwechsel, der in Deutschland gut ankommen dürfte.

Auf den ersten Blick scheint es also, als habe sich die Documenta für die zu erwartende argwöhnische Beobachtung der nächsten zweieinhalb Jahre bestmöglich aufgestellt. Die Personalie der künstlerischen Leitung zeugt vom Wunsch nach Solidität und der Besinnung auf die enge inhaltliche USA-Anbindung der früheren Ausgaben. Eher ein "Zurück zu alter Stärke" als ein völliger Neustart. 

Naomi Beckwith wirkt nicht so, als ließe sie sich vom erhitzten Debattenklima in Deutschland abschrecken. Auch hat sie angekündigt, ihr Konzept, wie von der Documenta gewünscht, in naher Zukunft öffentlich vorzustellen. Es ist ihr zu wünschen, dass sie ihre Arbeit ohne öffentliche Störfeuer und in einem wohlwollenden Umfeld beginnen darf. Ob die künstlerische Vertrauensfrage letztlich zu ihren Gunsten ausgeht, muss sich dann später zeigen.