Neues Interesse am Brutalismus

Die Wiederentdeckung der "Bodybuilding-Architektur"

Potthässlich oder doch schön? Es gibt neues Interesse am Baustil des Brutalismus, er findet in den sozialen Netzwerken neue Liebhaber. Doch was macht die polarisierenden Betonkolosse eigentlich aus?

Nackte Betonwände mit weit herausragenden Lüftungsrohren: Der Berliner Mäusebunker sieht aus wie ein Schlachtschiff voller Kanonen. Das Gebäude vermittelt eine Aura der Abschottung, ja Feindseligkeit – und das passt genau zu seiner Funktion. Es beherbergte die "Zentralen Tierlaboratorien" der Freien Universität Berlin, war also eine riesige Tierversuchsanstalt.

Lange als "potthässlich" geschmäht, ungenutzt und dem Abriss geweiht, entstand in den vergangenen Jahren eine neue Wertschätzung für das Gebäude, sodass es 2023 unter Denkmalschutz gestellt wurde. Ähnlich geht es anderen Bauwerken, die dem Brutalismus zugerechnet werden. Bilder dieser Betonmonster werden in den sozialen Netzwerken massenhaft geteilt. Was steckt hinter dem Sinneswandel?

Mit Brutalität hat der Brutalismus nichts zu tun – eher schon mit Champagner brut, trockenem Champagner. "Béton brut" bedeutet "roher Beton". Mitgeprägt hat den Ausdruck der Schweizer Architekt Le Corbusier (1887–1965). Er begann nach dem Zweiten Weltkrieg damit, Betonbauwerke nicht mehr zu verkleiden, sondern den Beton so sichtbar zu machen, wie er sich nach dem Entfernen der Holzschalung präsentiert. Von daher der Name "Sichtbeton".

Ein bewusster Kontrast zur Wirtschaftswunderzeit

Le Corbusier fand das ehrlicher. Brutalistische Architektur ist geradezu provozierend direkt, sie ist monumental, sie trumpft auf. "Bodybuilding-Architektur" nennt es der Brutalismus-Experte Oliver Elser, Kurator am Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt und Gründer der Initiative "SOS Brutalism". In Westdeutschland sei der Baustil auch ein bewusster Kontrast zur Architektur der Wirtschaftswunderzeit gewesen: "Das gilt besonders für die brutalistischen Kirchen, die eine Ästhetik der Kargheit und Demut ausstrahlen."

Nicht umsonst hieß der Großmeister des brutalistischen Kirchenbaus, der Kölner Architekt Gottfried Böhm (1920–2021), "der Gott des Betons". Sein Hauptwerk ist die Wallfahrtskirche von Neviges bei Wuppertal.

Ein wahres Betongebirge, das man über einen ansteigenden Pfad wie bei der Wanderung zum Gipfel erklimmt. Dann tritt man durch eine Felsspalte und wähnt sich zunächst in einer Höhle. Durch eine Fensternische fällt wunderschönes rotes Licht herein – man fühlt sich wie in einer anderen Welt, dem Irdischen entrückt und verzaubert. "Das ist einfach eine geniale Architektur", sagt die ehemalige Kölner Dombaumeisterin Barbara Schock-Werner der Deutschen Presse-Agentur. 

Die Bensberger Akropolis

Böhms bedeutendster Profanbau ist das Rathaus von Bensberg bei Köln: Auch wieder ein Berg aus Beton, den Böhm hier frech auf die Reste einer mittelalterlichen Burganlage gesetzt hat. Vom Farbton her passt es sogar zusammen, und von den Umrissen her erinnert auch der Neubau an eine Ruine mit Turm. Dennoch hat die krasse Verbindung von Burgmauern mit Betonfassaden etwas Schockierendes. Das Gebäude bekam zahlreiche Spottnamen wie "Bensberger Akropolis", "Beamtenbunker" und "Aapefelse" (Affenfelsen).

Deutschland besitzt viele solcher Rathäuser im brutalistischen Stil, weil die kommunalen Verwaltungen in der Nachkriegszeit expandierten. Die öffentliche Hand hatte damals – ebenso wie die katholische und evangelische Kirche – das nötige Geld für ambitionierte neue Architektur.

Dazu kamen im Zuge der großen Bildungsoffensive der 1960er und 70er Jahre neu gegründete Universitäten – herausragendes Beispiel ist die komplett im brutalistischen Stil errichtete Ruhruniversität Bochum. Sie ist als Wissenshafen im Meer gedacht, in dem die Gebäude der verschiedenen Fakultäten wie Schiffe vor Anker gegangen sind. Das Audimax im Zentrum sieht aus wie eine riesige Muschel.

Brutalistische Architektur ist sehr künstlerisch

"Hier wird der Beton geradezu zelebriert, und das ist brutalistische Architektur im besten Sinne", meint Experte Oliver Elser. "Brutalistische Architektur ist sehr künstlerisch, sie schlägt Kapriolen." Deswegen könne man auch lang nicht jedes Betongebäude aus der damaligen Zeit als brutalistisch bezeichnen. Einen Überblick bietet die Datenbank unter SOSBrutalism.org. 

Anfang der 80er Jahre kam der Brutalismus allmählich aus der Mode – aus verschiedenen Gründen. Zum einen war er schlicht zu aufwendig und zu teuer: Es muss immer erst eine Holzverschalung gebaut werden, in die der Beton dann eingefüllt wird, und wenn er einmal getrocknet ist, kann man nichts mehr verändern – eine sehr anspruchsvolle Bauweise, wenn das Ergebnis so skulptural geraten soll wie etwa bei Gottfried Böhm. Auch energietechnisch sind Betonwände schwierig, weil sie schnell auskühlen.

Schon bald galten brutalistische Bauten zudem schlicht als Geschmacksverirrung - von der Ruhr-Uni Bochum zum Beispiel hieß es lange, sie sei so menschenfeindlich gebaut, dass man dort depressiv werde. "Das lag aber vor allem daran, dass es dort zu wenig Cafés gab, zu wenig Orte, wo man auch mal ausspannen konnte", findet Elser. "Man hatte als Studierender das Gefühl, dass man in eine wissenschaftliche Legebatterie kam mit einer einzigen Riesenmensa, in der dann alle zur selben Zeit essen sollten. Da hat man dann später dazugelernt und nachjustiert."

Von einer neuen Generation wiederentdeckt

Elser bestreitet auch, dass Beton ein Baustoff ist, der besonders schnell verwittert. Die Betonbunker des Zweiten Weltkriegs stünden schließlich auch noch immer ziemlich unverändert in der Landschaft. Alle paar Jahrzehnte den Beton mit einem Wasserstrahler zu reinigen, sei eigentlich alles, was an Pflegeaufwand erforderlich sei - es sei denn, der Beton sei beim Bau schlecht verarbeitet worden.

Nach 2010 wurde der Brutalismus von einer neuen Generation wiederentdeckt. Auslöser war vielfach der Abriss stadtbildprägender Betonbauten, was Widerstand hervorrief. Dazu kam Aufmerksamkeit in den sozialen Netzwerken. "Am Anfang stand eine Facebook-Gruppe der Brutalism Appreciation Society (Gesellschaft zur Wertschätzung des Brutalismus), die mit sehr viel englischem Humor einherging", erzählt Elser. "Schon in dem Namen ist ja ein bewusstes Gegensteuern enthalten – lange wurde der Brutalismus ja eben nicht wertgeschätzt. Aber dann ging das irgendwann viral." 

Das neue Interesse am Brutalismus beschränkt sich dabei keineswegs auf Deutschland. "Viele afrikanische Länder und auch Indien erschließen sich zurzeit ihre brutalistische Architektur als Befreiung von kolonialer Herrschaft. Das ist also ein positives Erbe", so Elser.

Kontext verändert sich von Region zu Region

"Wohingegen in ehemaligen Ostblockländern wie den baltischen Staaten oder in der Slowakei die brutalistische Architektur auch mit einer Vorherrschaft Moskaus zur Sowjetzeit verbunden wird, da ist es also Regime-Architektur." Der Kontext verändert sich von Region zu Region.

In Deutschland empfiehlt Elser als besondere Hingucker neben dem Mäusebunker in Berlin, der Ruhr-Uni Bochum und dem Dom von Neviges noch das Stadttheater Ingolstadt, das Justizgebäude München an der Nymphenburger Straße sowie die Rathäuser von Pforzheim, Meckenbeuren-Kehlen, Bad Friedrichshall, Gronau, und Marl.