Unterwegs auf der Manifesta 12 in Palermo

Die Welt von morgen

Während das stinkreiche Deutschland über die Flüchtlingspolitik streitet, feiert die Manifesta in Palermo Vielfalt als kulturellen Reichtum. Ein Rundgang von Sebastian Frenzel

Vor der Chiesa di Sant'Anna stimmen schwarzgekleidete Frauen ein Lied an, Kinder tanzen dazu in loser Choreografie. Hibiskus, Orangen- und Zitronenbäumchen flankieren eine Steintreppe, an deren Ende Menschen ohne ersichtlichen Grund in die Hände klatschen. Auf der Piazza Vincenco Bellini hat sich derweil eine Festgesellschaft versammelt – es ist an diesem Frühsommerabend beim besten Willen nicht auszumachen, ob man sich noch auf der Manifesta befindet oder schon im ganz normalen Alltag Palermos, in dem von der Künstlerin Marinella Senatore initiierten Umzug oder in einer katholischen Prozession oder auf einer Feier zum Ende des Ramadans. Und vielleicht ist das ja auch ganz egal.

Es geht weiter auf die Piazza Magione im Altstadtviertel Kalsa, zur Eröffnungsfeier der Manifesta 12: Hedwig Fijen, die niederländische Initiatorin der Wanderbiennale, spricht und nach ihr der linke Bürgermeister Leoluca Orlando: "Palermo needs Manifesta – and Manifesta needs Palermo", ruft er selbstbewusst auf den Platz, den die Bomben des Zweiten Weltkriegs geschaffen haben. Musiker der afrikanischen Oper "The Sahel Opera" treten auf, es tanzen und trinken Palermitaner und Künstler und Menschen aller Herkunft, die Stimmung: super, volksfestartig.

"Cultivating Coexistence" – für das Kultivieren des Zusammenlebens plädiert diese Manifesta 12 in ihrem Titel und trifft in Palermo auf fruchtbaren Boden. Während auf dem Handy die Eilnachrichten aus dem stinkreichen Deutschland zum Streit über die Flüchtlingspolitik eintrudeln, ist die Perspektive an diesem südlichen Zipfel Europas eine ganz andere : In Palermo herrschen Armut, Kriminalität und eine Jugendarbeitslosigkeit von über 30 Prozent, doch Angst hat man vor Deutschland, das als Zuchtmeister der Sparpolitik ganz Südeuropa ausbluten lasse.  

Mit ihrem Konzept ist die Wanderbiennale auch bei der Lokalpolitik auf offene Ohren gestoßen: Bürgermeister Orlando heißt – ganz entgegen der neuen italienischen Regierung – Flüchtlinge als Bürger Palermos willkommen und vergleicht das Grenzregime Europas mit Massenmord. Statt Ressentiments vor Fremden zu schüren, versteht er Diversität als Grundlage jeder Kultur. Ihr verdankt sich Palermos historischer Reichtum (unter arabischer Herrschaft erlebte die Stadt ab dem 9. Jahrhundert eine Blütezeit), und sie soll jetzt zu einer besseren Zukunft führen.

Der vom Rotterdamer Architekturbüro OMA als Ko-Kurator der Manifesta erstellte "Palermo Atlas" beschreibt die Stadt mit allerhand Schaubildern und Statistiken als möglichen Prototyp einer zukünftigen Welt: Palermo liegt geografisch an der Schnittstelle von Europa, Nordafrika und dem Nahen Osten, Austausch und Bewegungen – von Menschen, Kapital, Gütern, Daten, Pflanzen – haben ihre Entwicklung immer schon geprägt. Man erkennt es, auch ganz ohne Studie, am arabisch-normannischen Dom, den römischen Säulen hinter einer byzantinischen Kirche, den hebräischen Straßenschildern. Man schmeckt es in der Caponata, den Arrancini, der Pasta con le sarde. Und man sieht es an der Flora und Fauna – nicht umsonst ist der Botanische Garten, in dem seit dem 18. Jahrhundert Koexistenz kultiviert wurde, die zentrale Ausstellungslocation.

Während andere Biennalen ihre Austragungsorte zur Verkaufskulisse für spektakuläre Kunstwerke degradieren, rückt die Stadt bei dieser Manifesta ganz in den Vordergrund. "Die Manifesta ist Palermo", so formuliert es Hedwig Fijen auf der Pressekonferenz. Die Kunst – mit 50 Beiträgen schon zahlenmäßig sehr zurückhaltend – hält sich respektvoll im Hintergrund: Eine Art Mediator, ein Augenöffner für die Schönheit und den historischen Reichtum der Stadt und ihre aktuellen Probleme, die von Massenarbeitslosigkeit bis zu Immobilienspekulationen, von der Mafia und bis hin zu ökologischen Problemen reichen. 

Kunst mit großen K sucht man auf dieser Manifesta vergeblich, beziehungsweise: Sie ist ja längst da. Über 1000 Gebäude stehen allein in der Altstadt Palermos leer, ein halbes Dutzend mehr oder weniger verfallener Palazzi bespielt auch die Manifesta: Schönstes Bodenmosaik stößt an einen Abgrund im Gemäuer, wo einst ein Kamin gewesen sein muss. In den Fensterrahmen eines früheren Festsaales schlackern Plastikplanen, das barocke Deckengemälde darüber ist vom Einsturz bedroht – die Präsentation neuer Malereitrends wäre in diesem Ambiente einigermaßen absurd.

Ausgehend von der Stadt Palermo entwirft die Manifesta ein Panorama unserer globalisierten Welt zwischen Migrationsbewegungen, Big Data, Umweltfragen: Die Gruppe Forensic Oceanography spürt investigativ-journalistisch der europäischen Grenzpolitik im Mittelmeerraum nach, Laura Poitras und Tania Bruguera dokumentieren in ihren Arbeiten die Proteste der Sizilianer gegen eine auf der Insel stationierte US-Abhörbasis. Poetischer ist der Beitrag von Richard Vijgen, der die Luftverschmutzung über Palermo visualisiert und als Deckengemälde in den Palazzo Ajutamicristo projiziert: Dorthin, wo einst Barockengel in den Himmel schwirrten.

Meist aber konzentriert sich die Manifesta auf leise, möglicherweise aber effektive Interventionen: Im ZEN-Distrikt, einem sozialen Brennpunkt, haben das Designkollektiv Coloco und der Künstler Gilles Clément zusammen mit Anwohnern bereits vor einem Jahr einen Gemeinschaftsgarten angelegt. Das Architektenkollektiv Rotor bespielt gemeinsam mit einer örtlichen Initiative eine illegal errichtete und seit Jahren leerstehende Siedlung mit einem Kulturprogramm – vom Dach eines Cosa-Nostra-Baus aus öffnet sich der Blick auf die geografische, ökologische Einbettung der Stadt.

Und dann spannen sich über verschiedene Innenhofgärten in der Altstadt gelbe Netze. Das Projekt "Garden of Flows", entwickelt von Künstlern, Botanikern und Biologen der Universität Palermo, erforscht alternative Bewässerungsmethoden in der von Niederschlagsarmut betroffenen Region. Die Netze binden den in der Luft befindlichen Wasserdampf und befeuchten so die unter ihnen liegenden Pflanzen. Die Ernte wurde zu einer großen öffentlichen Cooking Session verarbeitet: kulinarische Koexistenz als Rezept von morgen.