Wer schon einmal an einem Vulkankrater stand, der kennt das Gefühl zwischen Ohnmacht und Erhabenheit. Der Aufstieg ist geschafft und der Abgrund weitet sich auf. Aus pseudosicherer Distanz stellt man sich vor, wie einem der Schlund gleich tonnenweise Lavamaterial entgegenschleudert. Vielleicht tut er es. Vielleicht auch nicht.
Die Gruppenausstellung "Walle! walle*" im Wohnhaus von Johann Wolfgang von Goethe am Frauenplan in Weimar ist weniger zynisch als dieser Gedanke und doch beschleicht einen auch hier eine unterschwellige Unsicherheit. Zum Beispiel dann, wenn die Künstlerin Danica Dakić in einer Videoinstallation zwei Kinder vergnügt vor einer Vulkankulisse aus Papier am Strand Ball spielen lässt. Die Kulisse, die aus einem Puppentheater von Goethes Sohn August stammt, ergänzt die reale Horizontlinie der Filmaufnahme wie ein Puzzlestück. Darauf hat der mächtige Berg längst begonnen, Feuer in den Himmel zu speien. "Achtung", möchte man den Kids da zubrüllen und vergisst dabei, dass es sich bei der Gefahr im Hintergrund nur um ein Bild handelt.
Dabei dürfte vielen der Begriff "Walle walle" noch aus dem Schulunterricht geläufig sein. So poppt bei dem Gedanken an Goethes Ballade "Der Zauberlehrling" eine ganze Kette an Assoziationen auf: Man nehme eine gehörige Portion Blauäugigkeit und ergänze ein bisschen brodelndes Wasser. Fertig ist die völlige Eskalation der Dinge, die man hätte kommen sehen können und die nun unumkehrbar scheint. "O du Ausgeburt der Hölle! Soll das ganze Haus ersaufen?" Der Rest ist bekannt. Da hilft nur der alte Meister, um die Katastrophe souverän abzuwenden.
Was aber, wenn es keinen alten Meister gäbe, fragt sich Danica Dakić vor dem Hintergrund der Ausstellung, die sie in diesem Jahr in der thüringischen Kulturhochburg Weimar kuratiert hat. "Der Titel zitiert den Zauberspruch aus Goethes Ballade für eine unter den Kräften des Menschen aus den Fugen geratene Welt", erklärt Dakić. Wir erinnern uns: Pandemie, Krieg, Klimakollaps – finstere Vergangenheit, finstere Gegenwart, finstere Zukunft. Mit "Walle! walle*" wollte Dakić nun ein "Haus in Bewegung" schaffen, wie sie sagt: "ein sozialutopisches Labor, in dem kulturelles Erbe zum Ausgangspunkt wird, um zeitgenössische Fragestellungen zum Lebensraum Erde zu verhandeln."
Um dem nachzugehen, nahm die aus Bosnien stammende Künstlerin und Professorin der Weimarer Bauhaus-Universität die Einladung und Herausforderung des Goethe-Nationalmuseums an: die Zusammenführung eines Ortes, an dem sich Historie wie Luft atmen lässt, mit zeitgenössischer Kunst. Wo Goethe knapp 50 Jahre lang als Mieter mit seiner Familie und naturwissenschaftlicher Sammlung wohnte, begegnet man 2023 Dakić und drei weiteren Künstler und Künstlerinnen. Man kann hier kollektive Selbstreflexion üben oder wie Dakić wahrscheinlich sagen würde, sich ein bisschen verzaubern lassen.
Ein bisschen geheimnisvoll geht es im Goethe-Wohnhaus tatsächlich zu. Neben der beschriebenen Videoinstallation "La Casa" wäre da zum Beispiel die Kunst von Arijit Bhattacharyya. Der indische Künstler "befragt die Bewegung von nicht lebenden Wesen, die lebende Wesen auf einen Zustand des Schmerzes beschränkt", heißt es im minimalistischen Ausstellungsheftchen. Dafür stückelt Bhattacharyya seine Intervention in drei Teile und zeigt diese teils in Weimar, teils in der Casa di Goethe in Rom. Aufmerksam macht er dabei auf die Unsichtbarkeit von Wanderarbeitern und Wanderarbeiterinnen, die koloniale Geschichte der Spargelproduktion und wirft zugleich einen Blick auf Goethes Flora und Fauna. Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten. Eine seiner Performances kann am 6. Oktober in Weimar vor Ort besucht werden.
Zaubermacht der Kunst
Dann ist da noch die iranische Performance-Künstlerin Farzane Vaziritabar. Sie projiziert ein sprechendes Gesicht mit roten Lippen auf die aufgestellte weiße Büste der Juno Ludovisi, dem idealisierten Sinnbild weiblicher Schönheit im 18. Jahrhundert. Inspiriert von der Frauenrechtsbewegung im Iran entwirft sie so die "Farzane Ludovisi". Schräg gegenüber liegt auf einem Tisch eine schöne Mail-Art-Arbeit, die Vaziritabar gemeinsam mit ihrer Mutter geschaffen hat, einer Kalligrafin, die im Iran lebt. Das Werk ist angelehnt an Goethes eigene kalligrafische Versuche im Persischen.
Ist man einmal durch die wesentlichen Räume des Wohnhauses und über die ächzenden Holzdielen gehuscht, wartet da noch die Arbeit von Lea Maria Wittich. Die künstlerische Forscherin hat eine imaginäre Schublade in Goethes Sammlung geschummelt. Darin sieht man allerlei Kurioses. Neben bunten Steinen und einer Vulkan-Postkarte zum Beispiel ein knallblaues T-Shirt mit der Aufschrift "I love Neptunism". An der Stelle des Wortes "love" ein rotes Herz. Man muss dazu wissen, dass Goethe selbst lange Zeit bekennender Neptunist war. Er teilte also die Überzeugung, dass die Erde, wie man sie heute kennt, nicht aus der Gestaltungsmacht von Vulkanen, sondern aus den Abtragungen der Urzeit-Ozeane entstanden sei.
Bhattacharyya, Vaziritabar und Wittich: Alle drei gehörten übrigens dem Masterstudiengang "Public Art and New Artistic Startegies" an, in dem Dakić zwischen 2011 und 2022 als Professorin an der Bauhaus-Universität Weimar unterrichtete. Das selbsterklärte Ziel laut Dakić nun in Goethes Wohnhaus: "Eine Erzählung über die (Zauber-)Macht der Kunst in Zeiten existenzieller Bedrohung, wie sie in unserer Gegenwart auf vielen Ebenen und weltweit spürbar ist." Und so sieht man in Weimar eben Kinder vor der Eruption eines Vulkans Ball spielen oder eine Projektion, die ein altes Schönheitsideal plötzlich erlischen lässt. Eine Ausstellung wie ein Abbild unserer Gegenwart, in der ständig irgendetwas aufploppt oder überquillt, sei es das Klima oder der Mensch. "Wir schlafen sämtlich auf Vulkanen", wie selbst der Neptunist Goethe einst schrieb.