"Zu Sowjetzeiten war das nicht möglich." Oder: "Das war erst nach der Sowjetzeit denkbar." Mit solchen Bemerkung beenden die Leute momentan in Vilnius ihre Sätze, auch junge Menschen, die diese Zeit persönlich gar nicht mehr erlebt haben. Der Hotelangestellten fällt an dem Wochenende meines Besuches auf, dass sie vor dem Ukrainekrieg an die sowjetische Vergangenheit Litauens kaum noch gedacht habe. Auch sie hatte zuvor, als sie über die Neuerfindung des Hauses aus dem 15. Jahrhundert in Zentrum von Vilnius als Art Hotel sprach, diese Bemerkung fallen lassen. Die Hotelkunst des Artagonist ist von ziemlich spektakulärem Zuschnitt. Ich ruhe unter dem riesigen Kopf eines Teddybären samt rechter Pfote, den die Architektin Vaiva Šimoliũnaitė und ihre Mutter, die in Litauen hochgeschätzte Textilkünstlerin Rima Šimoliũnienė aus der Stirnwand über meinem Bett hervor schauen lassen. Mir geht derweil der Titel von Barnett Newmans in den 1960er-Jahren entstandenem Bild in der Neuen Nationalgalerie in Berlin durch den Kopf: "Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue".
In Vilnius hat diese Kombination keine Chance. Das zeigen die blau-gelben Fahnen überall im Stadtraum von Vilnius und die Plaketten von "Blue/Yellow" die an den Türen der meisten Geschäfte und Galerien kleben und zu Spenden für das ukrainische Militär aufrufen. Knapp 20 Millionen Euro haben die rund drei Millionen Einwohner Litauens seit dem 24. Februar gespendet. Der russische Überfall hat die Tage im Januar 1991 wieder in Erinnerung gebracht, als Michail Gorbatschow Spezialeinheiten nach Vilnius schickte.
Ein Jahr nachdem Litauen einseitig seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärt hatte, besetzten damals sowjetischen Soldaten Verteidigungsministerium, Pressehaus und Fernmeldeamt. Als dann aber hunderttausende Litauer von überall her dem Aufruf des provisorischen Staatsoberhaupts Vytautas Landsbergis folgten und einen lebenden Schutzwall um das Parlament und den Fernsehsender bildeten, wurden 14 von ihnen durch Schüsse und die über sie hinwegrollenden Panzer getötet.
Zu den Dingen nun, die zu Sowjetzeiten nicht möglich waren, gehört das selbstverwaltete Kunsthaus und Kulturzentrum SODAS 2123 in einer ehemaligen Schule für Kinder mit Behinderung. Eigentlich sollte der weitläufige Komplex abgerissen werden, aber dann überzeugte eine Gruppe von Künstlern und Künstlerinnen die Stadt, die Räume ihnen zu überlassen. Über 50 Künstlerateliers, Probestudios für Bands, Architektur-, Design- und Filmbüros, dazu Ausstellungs- und Veranstaltungsräume, sowie verschiedene Werkstätten sind hier inzwischen untergekommen.
Im Residenzprogramm wird die besondere Rolle deutlich, die Klangkunst und Sound-Design in der litauischen Kultur- und Kunstszene spielen. Ausdrücklich wendet es sich an Künstlerinnen und Künstler, die mit Field Recordings, Autotune, gesungenen oder gesprochenen Worten, Mixed Sounds, Installationen oder anderen klanglichen Interpretationen auf aktuelle (geo)politische, ökologische und soziale Themen reagieren. Der zweimonatige Aufenthalt im SODAS 2123, der im Frühjahr und Herbst an je drei Kunstschaffende vergeben wird, sponsert der Nordische Ministerrat. Es können sich entsprechend nur Künstler und Künstlerinnen aus Skandinavien und den baltischen Staaten bewerben.
Paulius Kilbauskas von Garso generatoiai (dt. Tongenerator), bekannter Komponist, Produzent und Multi-Instrumentalist, bearbeitet gerade im Studio den Sound zum Dokumentarfilm "Tarsi Vilnius", wobei seine Partitur subtil und gleichermaßen raffiniert in die Bildmontage einhakt. Der Film des Kameramannes Eitvydas Doškus, der mit seinen Arbeiten schon mehrfach in Cannes oder San Sebastian vertreten war, entwirft in extrem atmosphärischen Bildern ein Porträt von Vilnius. Wie in einem Palimpsest scheint unter den Bildern der heutigen modernen Stadt der alte historische Glanz durch.
Vilnius als Filmkulisse
Nachdem ausgebuffte Radioprogramme fehlen, sind Theater und vor allem Film die Domäne der elektronischen Musik und Klangkunst. Tatsächlich wird in Vilnius viel gefilmt, wobei internationale Produktionen eine wichtige Rolle spielen. Die mehrfach preisgekrönte Miniserie "Chernobyl" machte etwa Vilnius' Plattenbauvorstädte zur ukrainischen Stadt Pripjat, während die historische Altstadt die Kulisse für "Katharina die Grosse" mit Helen Mirren in der Hauptrolle lieferte genauso wie für den BBC-Sechsteiler "Krieg und Frieden" nach Leo Tolstoi.
Der Schauplatz aber, den die internationalen Produktionen am meisten lieben, etwa Netflix für seine Science-Fiction-Mysterie-Serie "Stranger Things", ist ein Prachtbau mitten in der Stadt: Lukiškių kalėjimas 2.0. Das noch im Zarenreich eröffnete Vorzeige-Gefängnis, konnte bei seiner Eröffnung im Jahr 1904 sowohl mit Zentralheizung wie Wasserver- und Abwasserentsorgung aufwarten. Als der Gefängnisbetrieb 2019 endlich eingestellt wurde, entstand ein weiterer Ort, an dem nun künstlerische Forschung, Konzert- und Veranstaltungsbusiness, Creative Industries und öffentliche Erinnerungsaufgabe zusammen kommen.
Gemanagt wird der Komplex von einer private Musik- und Eventagentur. Im Verwaltungstrakt finden bildende Künstlerinnen, Musiker, Performer:innen und Theaterleute sowie Tänzerinnen die passenden Studios. Das Gefängnis, dessen ursprüngliches Dekor, etwa die Art-Deco-Fliesen und -Lampen, weitgehend erhalten ist, hat dagegen das Interesse der Touristen: Führungen durch das Haus mit seinen zwei Flügeln, dem linken mit seinen ehemals zu langen Haftstrafen Verurteilten und dem rechten mit den Untersuchungshäftlingen, sind ausgebucht.
Nach dem ursprünglichen Konzept sollten die Gefangenen nicht nur medizinisch, sondern auch spirituell versorgt werden, weswegen es eine große orthodoxe Kapelle und weitere Beträume für andere Religionen gibt. Die orthodoxe Kapelle des Heiligen Nicholas dient jetzt als Ausstellungsraum, was religiösen Kreisen nicht behagt. Mit Viktoras Paukštelis stellte gerade ein Künstler aus, dessen Motivwahl, allem voran ein auf den Kopf gestelltes, rot durchkreuztes Hitler-Porträt, eine Geschichte des Gefängnisses und der Stadt in Erinnerung ruft, der erst noch gedacht wird.
Denn selbstverständlich war der Bau während der überwiegenden Zeit seiner Nutzung das ganze Gegenteil einer Vorzeigeinstitution. Vor allem die politischen Gegner der jeweiligen Herrscher wurden hier eingekerkert und gefoltert. Die Litauerinnen und Litauer, die dabei verständlicherweise erst einmal nur die eigene Verfolgungsgeschichte gesehen haben, reflektieren inzwischen diese Erinnerungskultur auch kritisch. Mit seinem durchgestrichenen Hitler-Portät erinnert Paukštelis an die verdrängte Kollaboration mit der deutschen SS und der Wehrmacht bei der Vertreibung und Ermordung der jüdischen Stadtbevölkerung sowie der von den Deutschen aus den besetzten Gebieten Deportierten.
Viktoras Paukštelis ist nicht nur als Maler bekannt, sondern mehr noch als klassischer Pianist, der unter anderem mit den Berliner Philharmonikern auftrat und in der Carnegie Hall konzertierte. Grenzgängerische Doppelbegabungen scheinen in Litauen nicht ungewöhnlich zu sein. Lina Lapelytė, die mit der Regisseurin Rugilė Barzdžiukaitė und der Autorin Vaiva Grainytė, den litauischen Pavillon entwarf, der auf der letzte Biennale von Venedig den Goldenen Löwen gewann, ist ebenfalls Musikerin und bildenden Künstlerin. "Sun & Sea (Marina)", die Strandleben-Performance als dystopische Oper mit Arien über Klimakatastrophe und Billigflugtourismus, gehört unbedingt zu den Errungenschaften, die zu Zeiten der Sowjetunion nicht möglich waren.
Tourismus ist seither sehr präsent in Vilnius, das mit einer wunderbaren barocken Stadtarchitektur aus dem 16. Jahrhundert überrascht, die sich italienischen Baumeistern verdankt. Sehr nachvollziehbar, dass die überaus reizvolle Altstadt mit ihrem mittelalterlichen Straßenverlauf, immer wieder unterbrochen durch die klare Geometrie der Gebäude aus späterem Entstehungszeiten, 1994 zum Unesco-Welterbe erklärt wurde. Die Stadt, die 2023 ihr 700. Jubiläum feiert, ist eine baltische Gründung und die Universität aus dem Jahr 1579 eine der ältesten Europas. Seit ihrer Geburt galt Vilnius als eine der liberalsten Städte Europas. Im Lauf ihrer Geschichte bot sie den unterschiedlichsten Flüchtlingen Schutz, heute Ukrainerinnen, in früheren Zeiten allen voran den verfolgten Juden aus Mitteleuropa und Russland. Durch sie wurde die später gerne "Jerusalem des Nordens" genannte Stadt als Zentrum jüdischer Kultur und Aufklärung berühmt.
Am Übergang von der Altstadt in die moderne Stadterweiterung im Westen ist das MO Museum für zeitgenössische Kunst symbolisch richtig platziert. Der Biotechnologieunternehmer Viktoras Butkus wollte der Öffentlichkeit seine seit den 2000er-Jahren aufgebaute Kunstsammlung zugänglich machen und beauftragte – nach einem gescheiterten Wettbewerb – den US-Stararchitekten Daniel Libeskind mit dem Bau des Museums, das eine Gesamtfläche von 3.500 Quadratmeter hat. Der Betrieb des 15 Millionen Euro teuren privaten Museumsprojekts finanziert sich über Eintrittsgelder und Verkäufe aus dem Buchladen und dem Museumsshop.
Libeskind nahm in seinem Entwurf die Lage an einem ehemaligen Stadttor auf, wobei er die Situation auf eine für ihn typische Weise interpretierte, indem er den strahlend weiß verputzten Museumsquader von einer mächtigen Freitreppe durchqueren lässt. Von ihr kann man ins Museum gelangen, gleichzeitig lässt sie sich einfach als Passage nutzen, über die man zur öffentlich zugänglichen Dachterrasse gelangt.
In die Wechselausstellungen fließen immer auch Stücke aus der rund 5000 Arbeiten umfassenden Sammlung von Viktoras Butkas mit litauischer Kunst von 1950 an bis heute ein. Neben Skulptur, Grafik, und Malerei, die in der Zeit vor 1989 auch darüber Auskunft gibt, was "in der Sowjetzeit nicht möglich" war, und Videokunst und Installation, die dann zeigt, was erst "nach der Sowjetzeit möglich" war, überzeugt der Sammlungsbereich Fotografie. Hier glaubt man international bekannte Ikonen in den Schwarzweißaufnahmen von Aleksandras Macijauskas und Vitas Luckus wiederzuerkennen.
Auch Rimantas Dichavačius Aufnahme "Old Jewish Cemetery. Vilnius. Olandų Street, 1963-1967" aus der MO Museum Sammlung scheint eine solche bekannte Fotografie zu sein. Ohne Horizont zeigt das Foto ein scheinbar endloses Feld wild neben- und hintereinander stehender Grabsteine. Der Friedhof war 1959 geschlossen worden. 1963 beobachtete der Fotograf wie Bulldozer begannen den Friedhof dem Erdboden gleich zu machen. Die geborgenen Grabsteine wurden unter der Sowjetregierung als Straßenbelag, Treppen- und Wandbauteile verwendet.
Diese Fotografie in der gerade zuende gegangenen Ausstellung "Kaunas Vilnius: Moving Mountains" markiert einen entscheidenden Unterschied der Städte: Vilnius war die längste Zeit seiner Existenz keine Stadt der Litauer, sondern eine Stadt der Anderen, der Juden, die vor dem Zweiten Weltkrieg noch 40 Prozent der Einwohner stellten, der Polen auf die 30 Prozent der Einwohner entfielen und der Belarussen, dazu kamen noch viele weitere Nationalitäten von Menschen, die Handel und Wissenschaft in die Stadt gebracht hatten.
Die Ausstellung "The Meeting that Never Was", die jetzt am 8. Oktober eröffnet, geht den künstlerischen Entwicklungen nach, die sich in Litauen, West-Europa und den USA während des Kalten Kriegs vollzogen. Dabei sollen die Begegnung mit den historischen Bewegungen den kulturellen Kontext erweitern helfen, in dem die gegenwärtigen globalen Krisen und Tragödien verstanden werden können. Die von Charles Esche, Anders Kreuger und Gabrielė Radzevičiūtė kuratierte Schau legt besondere Aufmerksamkeit auf deutsche Künstler wie Joseph Beuys, Jörg Immendorf, Anselm Kiefer, Katharina Sieverding und Sigmar Polke und Gerhard Richter. Litauische und lokale Besucher aus Vilnius werden die erste Gelegenheit zu schätzen wissen, Arbeiten moderner Künstlerikonen wie Andy Warhol, Bruce Nauman oder Yves Klein zu sehen.
Dass in der gegenwärtigen Situation damit ganz klar der Zusammenbruch jener Welt gefeiert wird, die dem Westen grundsätzlich feindlich gegenüber steht, hat der Wiedergänger des untergegangenen Sowjetreichs Wladimir Putin zu verantworten.