Auf einer Dachterrasse hoch über dem Flutgraben in Berlin-Kreuzberg räkeln sich zwei Frauen auf einer weißen Plane. Während von unten die Bässe aus den schwimmenden Clubs heraufwehen, haben sich die Frauen die Augen mit bunten Schals verbunden. Sie tasten nach den Gliedmaßen der anderen, rollen wie in Zeitlupe aufeinander zu und wieder voneinander weg. Die trance-artigen Bewegungen der beiden Körper sind Proben für eine Performance, aber ihre Anwesenheit auf dem Dach ist gewissermaßen auch ein politisches Statement. Der Künstlerverein "Flutgraben e.V.", der in einer ehemaligen Omnibuswerkstatt an der Puschkinallee rund 50 Studios gemietet hat, lädt für eine Woche andere Kulturschaffende in ihre Räume ein, die durch steigende Mieten aus ihren Ateliers vertrieben wurden.
"Occupy Flutgraben" nennt sich die Aktion, die Opfer von Gentrifizierung vernetzen und auf die Auswirkungen der Mietpreisexplosion auf die Berliner Künstler aufmerksam machen will. "Die Resonanz hat mich überrascht", sagt Mikala Hyldig Dal, Vorstandsmitglied von "Flutgraben e.V." und Initiatorin der freundlichen Übernahme. "In dieser Woche werden 50 Künstler bei uns arbeiten, über 1000 haben sich für das Projekt interessiert." Die gebürtige Dänin, die seit 18 Jahren in Berlin lebt, arbeitet selbst in einem Studio am Flutgraben, dem größten von Künstlern betriebenen Studio-Komplex, der im Zentrum Berlins noch übrig geblieben ist.
"Wir haben unheimliches Glück, weil uns gerade versichert wurde, dass das Haus noch 25 Jahre für Kunst und Kultur genutzt werden kann", erzählt Mikala Hyldig Dal. "Aber wir können nicht nur an uns selbst denken. Unser Privileg ist auch eine Verpflichtung, uns für andere Künstler zu engagieren." Nicht nur auf dem Dach des Gebäudes wird gearbeitet, auch in der Gemeinschaftshalle werden Leinwände gespannt, Nischen für Projektionen ausgesucht und Rahmen zusammengezimmert.
Geschichten von verlorenen Ateliers findet man hier schnell und reichlich. Wie die von Elke Philomena Kupfer, die Anfang 2015 mit 40 anderen Künstlern aus ihrer Studiogemeinschaft am Erkelenzdamm in Kreuzberg flog. "5,50 pro Quadratmeter", sagt sie wehmütig. Alles Verhandeln und Demonstrieren nützte nichts. Die Immobilienfirma Akelius kaufte das Areal und hat dort heute einen Firmensitz. Elke Philomena Kupfer hatte ein Jahr lang gar kein Studio mehr, nun teilt sie sich mit einer anderen Künstlerin ein kleines Ladenlokal in Neukölln – für den dreifachen Quadratmeterpreis. "Ich bin hergekommen, damit ich endlich mal wieder ein größeres Format machen kann", sagt die Malerin, während sie vor einer zwei mal drei Meter großen Leinwand steht. "Das geht bei mir im Studio nicht."
Auch die Performancekünstlerin Marta Lodola, die vor vier Jahren aus Mailand nach Berin zog, hat schlechte Erfahrungen bei der Studiosuche gemacht. Ein eigenes bezahlbares Atelier, in dem sie Platz zum Proben hat, hat sie noch immer nicht gefunden. Immer mal eine Zwischenmiete bei anderen Künstlern in meist viel zu kleinen Räumen – mehr war bisher nicht drin. "Es frisst sehr viel Energie", sagt Marta Lodola, die sich auch in ihren Performances und Videos mit der Veränderung in Städten beschäftigt. "Ich habe gedacht, dass Berlin ein Ort der Künstler ist, aber es ist schwierig geworden."
Laut einer Studie des Instituts für Strategieentwicklung vom März diesen Jahres ist die Lage der Berliner Künstler äußerst prekär. Nur jeder Zehnte kann von seiner Kunst leben, das Durchschnittseinkommen pro Jahr beträgt bei Männern rund 11 500, bei Frauen sogar nur 8300 Euro. Diese Einkommensverhältnisse vertragen sich schlecht mit steigenden Mieten. "Es gibt diesen Witz, dass sich reiche Leute nur über Kunst und Künstler nur über Geld unterhalten", sagt Mikala Hyldig Dal. "Es kostet immer mehr Zeit und Mühe, sein finanzielles Überleben zu sichern und sich zum Beispiel für Förderung zu bewerben. Diese Zeit fehlt dann für die eigentliche künstlerische Arbeit."
Auch von der Dachterrasse am Flutgraben lässt sich der Wandel Berlins in Echtzeit beobachten. Am Spreeufer Richtung Treptow, noch vor ein paar Jahren eine Mondlandschaft, sprießen schicke Geschäftshäuser in die Höhe, in den nächsten Jahren sollen außerdem zwei Wohntürme und ein Apartment-Hotel entstehen, direkt an der berühmten Fluss-Skulptur "Molecule Man" von Jonathan Borofsky. Das Gelände am Flutgraben wird zunehmend vom Luxus umzingelt – eine Entwicklung, die eine Woche offenes Atelier natürlich nicht aufhalten kann. Aber dem Verein geht es auch um die Symbolik ihrer Aktion. "Wir sind hier eine Insel", sagt Mikala Hyldig Dal. "Deshalb ist es uns wichtig, das Thema Gentrifizierung sichtbar zu machen. Wir wollen kein Museum sein, wo die Leute hinkommen und sagen: Aha, so war es also mal."
Ob sie mal daran gedacht hat, Berlin zu verlassen? Mikala Hyldig Dal nickt sofort. "Schon oft", sagt sie. "Aber es lohnt sich, um Berlin zu kämpfen. Gentrifizierung ist keine Naturgewalt, gegen die man nichts tun kann." Die Künstlerin und ihre Atelierkollegen hoffen, mit "Occupy Flutgraben" und der daraus entstehenden Ausstellung am kommenden Samstag Aufmerksamkeit zu bündeln. "Man soll mit Leuten reden und live erfahren, warum dieses Thema so wichtig ist", sagt sie. "Es müsste mehr Milieuschutz für Künstler geben. Dafür wollen wir uns einsetzen." Auch Elke Philomena Kupfer hat sich organisiert: seit 2014 ist sie Mitglied der "Allianz Bedrohter Berliner Atelierhäuser" (ABBA). Mit der Stadt verhandeln sie und ihre ehemaligen Studiokollegen vom Erkelenzdamm über den Neubau eines Ersatz-Künstlerhauses in Neukölln, doch es geht nur langsam voran. In dieser Woche will sich die Malerin jedoch eine Auszeit vom Verhandeln, Ärgern und Sorgenmachen nehmen. Im Flutgraben will sie einfach nur arbeiten. Und endlich das Bild machen, das in ihr Mini-Studio einfach nicht hineinpasst.
Am Samstag, 25. August, werden bei "Flutgraben e.V.", Am Flutgraben 3, ab 18 Uhr alle Werke zu sehen sein, die während dieser Woche entstehen.