Und der Löwe, der hat Zähne. Der Braunschweiger Löwe zeigt sie, ohne das Maul so vulgär aufzureißen, wie der wild lebende Panthera leo es nicht lassen kann. Seit achteinhalb Jahrhunderten gibt die Bronzekatze keinen Ton von sich. Sittsam, edel und doch sprungbereit, erkennbar an den gestreckten Hinterläufen. Um 1160 wurde er auf den Braunschweiger Burgplatz gestellt, eine der bedeutendsten frei stehenden Skulpturen des Mittelalters. Ein Denkmal von Rang, das man 1980 lieber vom viereinhalb Meter hohen Sockel holte und heute unter dem Dach der Burg Dankwarderode zeigt. Rechts vom Löwen steht der Dom St. Blasii. Darin befindet sich das Grabmal Heinrichs des Löwen und seiner zweiten Ehefrau, Mathilde von England.
Es war natürlich Herzog Heinrich, der den Löwen als Symbol seiner Macht aufstellen ließ. Und der vor allem mit dem Neubau der Stiftskirche St. Blasius und seiner Burg ein wenig spektakuläres Fleckchen zum fürstlichen Repräsentationszentrum aufwertete. "Er war gut gebaut, von mittlerer Größe und ungewöhnlicher Körperkraft" – so beschreibt eine mittelalterliche Quelle den Herzog. Die gute fürstliche Konstitution ist von der Forschung mal bezweifelt, mal bestätigt worden. Die an einem Heroenkult um Heinrich dringend interessierten Nationalsozialisten ließen 1935 das Grab öffnen. Sie fanden einen kleinwüchsigen und verkrüppelten Herzog, der offenbar eine mit 1,90 Meter ungewöhnlich große Frau geheiratet hatte. Um die "Nationale Weihestätte", zu welcher die NS-Führung den Dom umwidmen wollte, wurde es daraufhin merklich stiller. Heute wird es für möglich gehalten, dass die Skelette Mathildes und Heinrichs von den Nazis verwechselt wurden.
Es kann uns egal sein, ob Heinrich der Löwe nun ein Recke von Hitlers Gnaden oder ein Machtmensch von unscheinbarer Gestalt war. Er bleibt eine der schillerndsten Figuren des deutschen Hochmittelalters. Einige Historiker erkennen im Herzog eine Leitfigur europäischer Vernetzungen im Mittelalter. So gesehen könnte Braunschweig als Wiege des Vereinten Europas gelten. Worauf wartet der bronzene Löwe? Auf ein Gipfeltreffen der EU-Regierungschefs in der Burg Dankwarderode? Der Legende nach ist die Großkatze von einer ganz anderen Sehnsucht erfüllt.
Auf der Nordostseite des Doms befindet sich das einzige erhaltene Portal aus romanischer Zeit. Das "Löwenportal" weist eigenartige Kratzspuren in den steinernen Türlaibungen auf. Dafür gibt es drei Erklärungen. Soldaten könnten das Portal über Jahrhunderte dazu genutzt haben, ihre Schwerter und Lanzen am Portal zu wetzen. Eine andere Theorie geht von der angeblichen Heilkraft von Steinen aus, "die Heinrich den Löwen gesehen haben". Haben die Braunschweiger im Mittelalter am Portal gekratzt, um ein Heilpulver zu gewinnen, in dem Heinrichs legendäre Kraft steckte? Alles Quatsch! Wer an den Löwen glaubt, zieht die dritte Erklärung für die tiefen Kratzer vor: Als der tote Herzog anno 1195 aufgebahrt im Dom lag, versuchte der Löwe, zu seinem Herrn zu gelangen. Und schlug mit der Kralle gegen die Tür. Vergebens. Wer im Gesicht des Braunschweiger Löwen zu lesen versteht, weiß, dass dieses traurige Märchen wahr sein muss.