Herr Bouvier, verstärken die jüngsten Proteste gegen Balthus die Anstrengungen eines Museums, die umstrittene Kunst zu kontextualisieren?
Zunächst einmal ist Vermittlungsarbeit ein Hauptanliegen eines Museums. Das hat erstmal gar nichts mit Bildern wie "Thérèse rêvant" zu tun. Bei Balthus haben wir unser Vermittlungsprogramm erweitert, weil wir speziell bei den Mädchenbildern Besuchern, die irritiert sein könnten, Unterstützung bieten wollen. Eine Ask-Me-Person – wie wir das nennen – steht im Raum mit Balthus' kontroversen "Thérèse"-Bildern als Kunstvermittler zur Verfügung. In unserem Wintergarten haben wir eine Kommentarwand installiert. Besucher können ihre Gedanken und Meinungen auf Kärtchen schriftlich äußern. So eine Austauschplattform probieren wir jetzt zum ersten Mal aus. Wir wollen nicht missionieren, sondern lieber dem Publikum eine Möglichkeit geben, sich auszudrücken.
Wären Sie früher auf die Idee gekommen?
Die Sensibilität ist heute eine andere – auch jenseits von Balthus. Denken Sie an #MeToo, so eine Debatte kann und will man nicht ignorieren. Wir empfinden die Debatten, etwa um "Thérèse rêvant" im Metropolitan Museum, auch nicht als Angriff, sondern als interessantes Phänomen, das die Diskussionen erweitern kann. Vor einigen Jahren haben wir in der Courbet-Ausstellung das Bild "L'Origine du monde" gezeigt, das man anstößig finden kann. Auch dort war eine Ask-Me-Person im Raum.
Gibt es Triggerwarnungen?
Sie meinen Schilder, die darauf hinweisen, dass ein Werk Anstoß erregen könnte? Das stand nie zur Diskussion. Solche Hinweise animieren nicht zur Diskussion, stattdessen stellen sie ein angebliches Problem gleich in den Raum. Das wäre schon fast Zensur, verhindert aber auf jeden Fall, dass sich die Besucher ihr eigenes Bild machen können. Es sind doch so viele Leseweisen möglich. Es gibt einen veröffentlichten Brief, den 1994 eine Schulklasse an Balthus schrieb. Darin drücken die Kinder ihre Begeisterung gerade für das Bild "Thérèse rêvant" aus. Offenbar kann die Sicht von Gleichaltrigen auf ein Kunstwerk anders sein, als Erwachsene es erwarten oder wie Ältere das Werk selber wahrnehmen. Gerade die vielfältigen interpretatorischen Möglichkeiten sind uns ein besonderes Anliegen.
Im Katalog zur Retrospektive wird aus einem Gespräch zwischen dem Maler und Costanzo Costantini zitiert. Balthus sagt, Kunst sei "eine autonome, spezifische Sprache, die keiner anderen Sprachen bedarf, um sich zu erklären und verstanden zu werden." Finden Sie diese Aussage heute noch haltbar? Wenn man Balthus wörtlich nimmt, kann man sich doch alle Kommentare sparen!
Balthus hält die Autonomie der bildenden Kunst hoch. Er meint, dass ein Bild nicht der Sprache bedarf, um verstanden zu werden. Mit Recht sagt der Künstler, dass ein Werk keine sprachliche Legitimierung braucht, um gezeigt zu werden. Als Museum wollen und müssen wir Vermittlungsarbeit leisten. Diese Aufgabe ist sogar in den Stiftungszwecken der Fondation Beyeler festgeschrieben. Doch die Kunst ist autonom, insofern sehe ich keinen Widerspruch zwischen Balthus’ Credo und unserer Arbeit.
Sehen Sie heute die Freiheit der Kunst in Gefahr? Hanno Rauterberg legt dies mit seinem neuen Buch "Wie frei ist die Kunst?" nahe. Als Beispiele werden die Entfernung von Dana Schutz’ Gemälde "Open Casket" aus der Whitney Biennale genannt, da stand der Vorwurf der kulturellen Aneignung im Raum, und eben auch die Unterschriftenaktion gegen "Thérèse rêvant" im Metropolitan.
Ich sehe die Kunstfreiheit nicht grundsätzlich gefährdet, das zu behaupten, finde ich übertrieben. Vielleicht muss man in gewissen Fällen aber heute auch etwas anders und differenzierter über Kunst reden. Wer ein Problem mit einem Werk zum Ausdruck bringt, dem sollte man nicht einfach pauschal antworten, dass das eben Kunst sei und das Thema damit für abgeschlossen erklären. Auch muss man den jeweiligen Kontext der Diskussion betrachten. Wir haben in Europa eine andere Situation als in Amerika. Bei "Open Casket" oder "Thérèse rêvant" waren es Protestaktionen in den USA, dort ist die Perspektive eine andere. Themen wie zum Beispiel Rassismus sind brisanter, weil sie mit der Geschichte des Landes stark verbunden sind. Kunstausstellungen ermöglichen Reflexionen und Diskussionen über Normen, Konventionen und Werte. Wir erachten das als wichtige Herausforderung und Chance.
Die Fondation Beyeler zeigt 40 Balthus-Gemälde. Wie viele umstrittene Bilder sind dabei?
Was heißt umstritten? "Thérèse rêvant" ist, wenn sie so wollen, das kontroverseste Bild. In der Ausstellung geht es uns aber auch darum, die grosse inhaltliche Vielfalt in Balthus' Werk zu zeigen, jenseits seiner Darstellungen von jungen Frauen und Mädchen. Insgesamt machen die Mädchenbilder nur einen kleinen Teil der Ausstellung aus. Portraits, Landschaften und Interieurs gehören ebenso zu Balthus vielseitigem Werk und werden bei uns gezeigt. Das Motiv des Mädchens ist nur eines von vielen.
Erotische Posen, ein Höschen, das hervorguckt: Balthus wusste doch genau, was er tut, oder?
Er wusste es genau, das denke ich auch – und er wusste auch, was er malt. "La Rue" aus dem MoMA etwa und das viel diskutierte "La Leçon de guitare", das nicht in unserer Ausstellung zu sehen ist, wurden 1934 in Balthus’ erster Ausstellung in der Galerie Pierre in Paris gezeigt, mit der Balthus bewusst einen Skandal hervorrufen wollte. Er war ein junger, mittelloser Künstler, der ins Rampenlicht und erfolgreich werden wollte, was ihm schlussendlich auch gelang. Provokation ist in der Avantgarde eine wichtige Strategie an sich.
Hat die Bilder ein Pädophiler gemalt?
Es ist kein juristischer Fall von Kindsmissbrauch bekannt, es gab nie Anschuldigungen oder Anklagen gegen Balthus. Die Vermutungen gehen stark auf die Bildwelt von Balthus zurück. Und die deckt sich nicht mit der Person Balthus. Ein Künstler kann auch problematische Themen zum Ausdruck bringen, Abgründe zeigen, was nicht heißt, dass er diese Abgründe auch verkörpert. Beispiel: Gewalt und Tod. Wenn Künstler immer Verbrecher wären, wenn sie Folterszenen oder Morde darstellen, dann wäre wohl jeder zweite Künstler ein Verbrecher. Gerade die moderne Avantgardekunst hat oftmals auch den Anspruch, Tabus aufzuzeigen und mit diesen zu brechen, Dinge zu thematisieren, die in einem bürgerlichen Kontext eher verdrängt wurden. Ich würde das auch auf ältere Kunst ausweiten – es ist eine wichtige Dimension der Kunst an sich, dass sie nicht nur das Schöne und Gute thematisiert, sondern auch das Hässliche und Abgründige.
Sprechen wir über die minderjährigen Modelle. Womöglich wollten sie nicht gemalt werden. Wir wissen ja auch nicht, ob sie nein sagen konnten und inwieweit sie die Situation überhaupt überblicken konnten.
Ich will nicht spekulieren, daher ist die Frage schwer zu beantworten. Was bei Balthus und seinen Mädchenbildern wichtig ist: genau zu schauen, wie das Motiv dargestellt wird. Alles andere ist hypothetisch. Einige der Frauen, die in jungen Jahren für Balthus Modell sassen, haben sich später als Erwachsene sehr positiv über diese Erfahrung und ihre Verbindung zum Künstler geäussert. Sie erinnern sich an Sitzungen, die wortlos verliefen. Sie verbrachten zwar Stunden in dem Studio, in dem Balthus zeichnete, posierten aber nicht in dem Atelier, wo er malte.
Wie werden die Mädchen denn dargestellt? Können Sie ein Beispiel geben?
Wenn ich mir "Thérèse rêvant" aus dem Metropolitan Museum anschaue, sehe ich ein junges Mädchen an der Schwelle zur Frau. Die Pose ist selbstvergessen, verträumt und sie strahlt Selbstsicherheit aus. Was ich aber nicht sehe, ist ein Mädchen dargestellt in einem erniedrigten Zustand. Vielmehr weist Thérèse im Bild sogar einen triumphierenden, leicht spöttischen Ausdruck auf. Die behauptete Opferrolle wird also im Bild selbst negiert. Man könnte die Darstellung sogar als Triumph des Kindes gegenüber dem Betrachter interpretieren. Balthus sagte wohl zu Recht, dass es nicht sein Problem sei, wenn die Betrachter alles Mögliche in sein Werk hineininterpretieren.
Wie wichtig erscheint es Ihnen überhaupt, die Mädchenbilder als Teil einer Balthus- Ausstellung zu zeigen und nicht auszuschließen?
Sie sind zentral, sie zählen zu seinen stärksten Bildern. "Thérèse rêvant" ist meiner Meinung nach eines seiner besten Gemälde, ein Hauptwerk der figurativen Kunst des 20. Jahrhunderts. Es ist ein vollendetes Kunstwerk mit einer extrem starken Inszenierung. Wir sind sehr stolz, dass wir beide Thérèse-Bilder aus der Sammlung des Metropolitan Museum bekommen haben, es sind Bilder, die nicht oft reisen dürfen. Zugleich geht es in unserer Ausstellung aber nicht in erster Linie um Balthus' Mädchenbilder. Ausgangspunkt der Schau ist das grossformatige Gemälde "Le Passage du Commerce-Saint-André", das sich seit vielen Jahren als Dauerleihgabe aus einer Privatsammlung in der Fondation Beyeler befindet. Darin geht es sehr stark um Zeit und Raum, ein Themenkomplex, der für uns ebenso wichtig war wie die Figur bei Balthus. Gerade aus der Perspektive der zeitlichen und räumlichen Dimension lassen sich die Mädchen auch noch einmal neu betrachten, die so eigenartig versteinerte Posen einnehmen. Man hat auch bei diesen Bildern das Gefühl, dass die Zeit stehengeblieben ist. Zudem ist nicht nur die Figur, sondern auch der Raum, das Interieur hochinteressant.
Könnte es so kommen, dass Balthus einmal kunsthistorisch abgewertet wird? Je nachdem, welche Haltung das Publikum zu ihm als Person einnimmt?
Ich glaube nicht, dass es zu einer Abwertung kommen kann. Man muss ja sagen, dass Balthus seit eh und je eine kontroverse Figur ist. Auch das macht ihn als Künstler aus. Er wurde schon vor Jahrzehnten heftig diskutiert. Durch die Reflexion, zu der wir ja anregen wollen, kann sich das Bild von Balthus sicher noch ein Stück weit ändern und öffnen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sein künstlerischer Rang dadurch in Zukunft leiden wird.