Während des größten Fotofestivals der Welt, der Rencontres d’Arles, tummeln sich auf den Straßen nicht nur leidenschaftliche Hobby-Fotografen, sondern sie haben auch die verschiedensten Kameras dabei. Ein älterer Mann trägt eine zweiäugige Rolleiflex um den Hals, wie sie der luxemburgische Fotograf Romain Urhausen seinerzeit am liebsten benutzte (das Festival widmet Urhausen eine große Retrospektive). Der Mann spricht eine Gruppe von drei Frauen an und bittet sie um ein Foto mit seiner Rolleiflex. Die Frauen lassen sich zwar überreden, aber nur, um ihm einen Gefallen zu tun. Eine von ihnen ist ein französisches Model, stellt sich heraus. Sie ist dank ihrer großen Instagram-Reichweite nicht mehr darauf angewiesen, auf den Straßen von Arles entdeckt zu werden, wie das früher während der Festivaltage passieren konnte.
Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich die 53. Ausgabe des jährlich stattfindenden und über die ganze Stadt verstreuten Fotofestivals: Einerseits sind die Rencontres eine Bastion der traditionellen Fotografie und wollen ihren Wurzeln treu bleiben – andererseits suchen sie nach dem richtigen Umgang mit neuen Medien und Plattformen. Trug Arles früher dazu bei, der Kamera überhaupt erst ihren rechtmäßigen Platz neben dem Pinsel zu erstreiten, hat es heute selbst eine Gatekeeper-Funktion bekommen. Wenn es früher Vorbehalte gegenüber der Fotografie gab, dann gilt die Skepsis heute einer neuen Generation und deren technischen Hilfsmitteln.
Ausgerechnet mit dem Pinsel-Tool aus Photoshop will der iranische Künstler Arash Hanaei unseren Begriff von dokumentarischer Fotografie erweitern. Für seine Schau "Suburban Hauntology" hat Hanaei jahrelang Bildschnipsel aus dem Internet gesammelt und in Ordnern wie "Körper", "Augen" oder "Text" katalogisiert. Ebene für Ebene collagiert er daraus virtuelle Welten, in denen sich die echte Welt sedimentiert, und bemalt sie schlussendlich mit Photoshop. Die verwendeten Filter und Lichtreflexe haben eine primitive Anmutung, denn bisher ist die Utopie, in einem "Metaverse" zu leben, noch nicht spruchreif. Viele Internet-Kommentatoren haben sich über Mark Zuckerbergs schwülstige Präsentation des Metaverse eher ziemlich lustig gemacht.
Au revoir, Tradition!
In Hanaeis Videoarbeiten trifft das Metaverse auf die sozialistische Architektur des Franzosen Jean Renaudie. Dessen geometrische Labyrinth-Häuser wirkten in den 1970er-Jahren in Paris mindestens genauso befremdlich wie heute das Metaverse, sie spuken aber noch als "vergangene Zukünfte" durch das Pariser Stadtbild. In einem Virtual-Reality-Video treten die beiden gegensätzlichen Utopien von Zuckerberg und Renaudie jetzt im Duell gegeneinander an – mit dem Unterschied, dass Zuckerbergs Revolution vielleicht "die letzte Revolution der Menschheit" werden könnte, die allen anderen Utopien von Zusammenleben und Kunst ein Ende bereitet, wie Arash Hanaei sagt.
Auch die Französin Noémie Goudal rechnet in Arles mit der traditionellen Fotografie und ihrem Illusionscharakter ab. Irgendwo tief in einem tropischen Regenwald ließ Goudal ihre drei Meter hohen Palmen-Fotografien an Drahtseilen aufhängen; und zwar so, dass sie die realen Palmen dahinter verdecken. Dies ist keine Palme, würde René Magritte sagen. In Goudals Videoarbeit "Inhale Exhale" (2021) sinken diese Fotowände von den Seilen herab, geben die Sicht auf die Wirklichkeit dahinter frei, tauchen in einen Sumpf ein und steigen sauber und nass wieder in luftige Höhen auf. Ganz langsam geschieht das alles, ist aber spektakulär mitanzusehen.
In einer anderen Videoarbeit brennen die Urwald-Fotografien nacheinander ab, das Feuer erobert sich immer wieder aus einer neuen Richtung die Leinwand. Zum Schluss kommt hinter der letzten Leinwand noch Goudals Atelier zum Vorschein, und alles andere war nur vorgeschoben. Der Titel "Phoenix", den die Serie und die gesamte Schau trägt, verspricht, dass aus der Asche der Dekonstruktion immer wieder neue künstlerische Möglichkeiten geboren werden. Goudal ist zugleich Performance-Künstlerin, in ihrem Schaffen sind Foto und Video untrennbar verbunden: zum Beispiel, wenn ein viel zu dunkles Foto erst mithilfe eines wandernden Lichtkegels aus dem millimetergenau darüber projizierten Video sichtbar wird.
Transformationen und Revolutionen in und für Arles
Außerdem steht Goudal in einer langen Tradition von interdisziplinär arbeitenden Künstlerinnen, die sich stets ihre eigene Nische geschaffen haben. Davon erzählt die große Ausstellung "A Feminist Avant-Garde" mit über 200 Werken aus der Wiener Verbund-Sammlung, die in die Räume der LUMA-Foundation in Arles eingeladen wurde. Unter den 70 gezeigten Künstlerinnen sind manche, die lieber das Fotopapier mit Nadel und Faden vernähten, und andere, die sich das eigene Gesicht abschnürten und das als Selbstporträt festhielten. Das Alter Ego, das die Künstlerin ORLAN geboren hat und zwischen ihren nackten Beinen festhielt, erwacht nur durch den perfekt symmetrischen Fotobeweis von Künstlerin und Klon zum Leben. Das Alter Ego, das die Künstlerin Tomaso Binga geheiratet hat, konnte hingegen persönlich mit Anzug und Krawatte zu der Hochzeit mit sich selbst erscheinen. So bedingten sich Fotografie und Performance stets gegenseitig.
Die LUMA-Foundation sitzt in einem Park aus Industriehallen, in denen sich früher Fabriken und Werkstätten befanden. In Arles und Umland gibt es eine relativ hohe Arbeitslosen- und Armutsquote. Das großteils über Ticketverkäufe finanzierte Festival bringt der Stadt wichtige Einnahmen. Auch deshalb strebt der neue Oberbürgermeister Patrick de Carolis, seit 2020 im Amt, eine publikumswirksame Neuaufstellung der Rencontres an. Möglichst breit gefächert und trotzdem möglichst zeitgeistig müsse das Festival jetzt werden. "In einer postindustriellen Stadt wie Arles müssen wir zwangsläufig den Wandel zu einer kulturellen Industrie schaffen", sagt Festival-Direktor Christoph Wiesner, der ebenfalls vor zwei Jahren, inmitten der Corona-Pandemie berufen wurde.
Eine große Bandbreite ist der diesjährigen Ausgabe jedenfalls gelungen. Ein persönliches Foto-Essay von Jansen van Staden über seinen Vater steht neben inszenierter Fotografie von Wiame Haddad, die den Vorabend der algerischen Unabhängigkeit als eine ewig offene Tür zu einem ewig unaufgeräumten Zimmer zeigt. Manchmal können private Nachforschungen genauso rigoros durchgeführt und erkenntnisreich wie wissenschaftliche Studien sein: Estefanía Peñafiel Loaiza hat aufgearbeitet, wie ihre Tante Myriam in den politischen Untergrund von Ecuador verschwand. Währenddessen legt Jacqueline Salmon die bis dato größte Untersuchung über Jesus Christus’ Lendenschurz vor, der über die Jahrhunderte hinweg vielen Trends unterworfen war.
Von starken Gegensätzen war die Fotografie schon immer geprägt. Das zeigt eine Retrospektive der US-amerikanischen Fotografin Lee Miller, die am berühmtesten für ihr Bild in Hitlers Badewanne sein dürfte. Miller arbeitete während des Zweiten Weltkriegs jedoch gleichzeitig als Kriegs- und Modereporterin, oft als beides in einem, ohne darin einen Widerspruch zu sehen. Sie revolutionierte den bis dahin steifen Modejournalismus, sie schrieb boulevardesk über die besiegten Deutschen oder die befreiten Franzosen. Und sie beherrschte den Spagat, ihre Fashion-Models sogar mit ausgebombten Straßen in Einklang zu bringen, als eine Dokumentation und Inszenierung zugleich. Es war damals der Auftrag der britischen Regierung an die Fotografinnen des Landes gewesen, den Menschen doch auch ein wenig Zerstreuung und moralischen Auftrieb in schwierigen Zeiten zu bieten.