2020 ist das Jahr, auf das man eigentlich nicht zurückblicken möchte. Es ist aber auch das Jahr, in dem so viel passiert ist wie noch nie, auch wenn es sich für einen selbst angefühlt hat wie eine Schlafstörung. Und jetzt stolpern wir im Halbschlaf hinüber in das Jahr 2021, durch das wir auch erst einmal tapsen werden, weil sich das mit den Impfungen doch eine Weile hinziehen wird.
Alle sind müde, weil es doch etwas anstrengend ist, die Tage heldenhaft auf der Couch vor Netflix zu verbringen. Jan Böhmermann twitterte er sei "pandemiemüde", kurz darauf, er sei "pandemietwittermüde". Als diese Tweets an mir vorbeirauschten, musste ich an Juergen Teller denken, der in einem Podcast sagte, durchs Erleben bekommt man Lebenslust. Nur das mit dem Erleben ist dieses Jahr eben so eine Sache gewesen. Heute sagte eine Künstlerin zu mir am Telefon: "Ich würde am liebsten den ganzen Tag nur rauchen und Wein trinken." Lol. Ok, wir haben tatsächlich lachen müssen. "Was soll man auch machen?", fragte sie mich. "Man geht einmal kurz joggen und dann?" Ich musste zugeben, dass ich nicht einmal joggen gehe, ich gehe gemütlich spazieren.
Ja, was haben wir eigentlich das ganze Jahr über gemacht, außer Stunden schnell oder langsam durch die Gegend zu laufen? Wir haben so viel Zeit wie noch nie vor unseren Smartphones und Laptops verbracht. Der erste Shutdown kam überraschend, und weil niemand wusste, wie so ein Shutdown eigentlich geht, fingen die einen an zu backen und die anderen zu streamen. Und natürlich gibt es auch Künstler*innen, die beides machen. Avery Singer und Chloe Wise zum Beispiel haben gekocht und gebacken und gekocht und gebacken … Kommen da eigentlich eine Reihe von Koch- und Backbüchern 2021?
Original versus Digital?
Avery Singer hat irgendwann angefangen, ihr Workout mit ihrem Personal Trainer live zu streamen, was ja irgendwie sehr nett ist. Sport für alle. Sowieso war 2020 das Jahr der Künstler*innen, die schon immer im Internet zu Hause sind oder zumindest ihren Zweitwohnsitz dort haben. Denn obwohl ich irre wenige Ausstellungen in Museen und Galerien gesehen habe, ich glaube, es waren unter zehn, habe ich dieses Jahr so viele Ausstellungen besucht wie nie zuvor.
Künstlergespräche habe ich auch noch nie so viele gehört, gefühlt eins bis fünf täglich. Und dann wurde gemeckert, dass es das ja wohl nicht sein könne, dieser Umzug ins Digitale. Man möge das doch bitte schnellstmöglich wieder sein lassen, weil so ein Kunsterlebnis vor dem Original nicht ersetzt werden könne. Das Internet geht natürlich auch wieder weg, das wird sich nicht halten. Denken das die Leute, die einem erzählen wollen, Kunst könne man nur im Museum erleben? Die Angst haben, dass plötzlich niemand mehr ins Museum will, weil es virtuelle Ausstellungsrundgänge gibt?
Peter Weibel hat zackig ordentlich Öl ins Feuer gegossen und ein paar Statements im Interview mit Monopol rausgehauen: "Im Museum, wo sich Leute vor den Bildern drängeln, die sich gegenseitig nicht kennen und sich gegenseitig nur auf die Nerven gehen, wird – wie im Konzertsaal oder Theater – eine Nähe beschworen. Diese Nähe ist eine fiktive, von der Massenindustrie erlogene. Sie dient bloß dem Zweck, möglichst viele Besucher im Museum, im Theater oder Konzertsaal zu haben." Nicht Nähe sei das Heilmittel für Kultur, sondern Distanz, "telepathischer Kulturgenuss".
Hören will man so etwas nicht, keine Frage. So eine volle Blockbuster-Ausstellung ist aber tatsächlich nervig, ich erinnere mich. Besonders gut erinnere ich mich an die Botticelli-Ausstellung im Städel, das ist schon sehr sehr viele Jahre her. Erst stand man lange in der Schlange, dann bewegte man sich mit einer Masse von Menschen durch die Ausstellung und konnte froh sein, wenn man eine Ecke von einem Bild sehen konnte. Die Luft war schlecht, man wollte eigentlich nur so schnell wie möglich wieder nach draußen, frische Luft ein- und ausatmen. Jetzt erzwingt die Pandemie ein Umdenken. Weibel sagte: "Man sagt immer, das Virus kennt keine Grenzen. Doch das Virus kennt die Grenze von 1,5 Metern. Stattdessen sind wir es, die keine Grenzen kennen und herumreisen, um live ins Theater und Museum zu gehen."
Was bleibt von der Pandemie?
Es wurde immer gewitzelt, dass der Kunstwelt-Jetset das ganze Jahr von Messe zu Biennale und von Biennale zu Messe rast. Man sieht immer die gleichen Künstler*innen, man begegnet immer den gleichen Leuten, die Reiserei ist teuer und Messeteilnahmen sind noch teurer. Waren da nicht auch alle ständig müde? Aber man kannte es nicht anders, so funktioniert er eben, der Kunstbetrieb. Genauer, so funktionierte der Kunstbetrieb vor der Pandemie.
Wann Blockbuster-Ausstellungen und Messen mit tausenden Besucher*innen am Tag auf engstem Raum wieder möglich sein werden, man weiß es nicht. 2022? Oder erst 2023? Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Wenn ich in einer Serie auf Netflix sehe, dass Menschen zum Essen in ein Restaurant gehen und sich im Café oder einer Bar treffen, bin ich kurz irritiert. Ah ja, so etwas hat man damals gemacht, vor der Pandemie, denke ich kurz und denke dann schnell an etwas anderes. Und natürlich wird all das irgendwann wieder möglich sein, wenn auch erst einmal nicht so unbeschwert. Aber müssen wir alles, was einmal möglich war, genau so wieder machen, nur weil es wieder möglich sein wird?
Es gibt genug digitale Formate, die sich in diesem Jahr bewährt haben. Und natürlich sollen diese digitalen Formate das Erlebnis vor Ort nicht vollständig ersetzen, aber wir könnten uns vielleicht langsam darauf einstellen, dass diese Online-Angebote so wenig wieder weggehen wie das Internet. Vielleicht erinnern wir uns daran, dass das Internet am Anfang auch nicht so schnell und voll war, wie es heute ist. Und genau so stehen Museen und Galerien mit ihren digitalen Formaten irgendwie noch recht am Anfang. Über was also wurde dieses Jahr gemeckert und warum wird es bleiben?
Livestreams
Eine "Verzweiflungstat" und "unausgegoren" nannte Jörg Heiser, was von Museen und Galerien, von Museumsdirektoren und Galeristen im Netz zu sehen war. Statt "sinnlosen Quatsch im Livestream rauszusülzen", solle man Kunstkritiker*innen und Kunsthistoriker*innen für Podcasts und Videobeiträge beauftragen, forderte Heiser. Nun, das eine schließt das andere ja nicht aus. Für Museen und Galerien ist es seit vielen Jahren eine Selbstverständlichkeit, Videos zu Ausstellungen zu produzieren: Trailer, Kurator*innenführungen, Promirundgänge. Und hat nicht mittlerweile fast jedes Museum einen eigenen Podcast?
Livestreams werden bleiben, weil sie im Gegensatz zu Videos und Podcasts interaktiv sind. Im Livestream können sich die digitalen Besucher*innen in das Gespräch einbringen, sie können Fragen stellen und damit den Verlauf eines Gesprächs mitbestimmen. So ein Livestream ist im Vergleich mit einem Künstlergespräch vor Ort wie ein Konzert in einem vollen Stadium im Vergleich zu einem Konzert in einem kleinen Club. Man hat mehr Zuschauer*innen und nicht weniger. Und man kann nur hoffen, dass Museen und Galerien auch in Zukunft, wenn Events wieder vor Ort stattfinden können, die Talks auch ins Netz streamen. Warum auch sollte man sich das internationale Publikum nehmen?
Zoom-Pressekonferenzen
Ich weiß gar nicht, warum das nicht schon immer gemacht worden ist. Und ich glaube, über Zoom-Pressekonferenzen wurde nicht wirklich gemeckert, weil Zoom-Pressekonferenzen die Arbeit von Kunstkritiker*innen erleichtern. Denn wer schafft es schon, zu all den Pressekonferenzen in all den Ländern, zu denen man eingeladen wird? In eine Zoom-Pressekonferenz kann man sich kurz einloggen, man erfährt von den Kurator*innen und Künstler*innen mehr über die Ausstellung und macht dann weiter im Büro mit der Arbeit, ohne einen halben oder ganzen Tag oder gleich mehrere Tage verloren zu haben. Fomo bleibt so auch aus.
Virtuelle Ausstellungsrundgänge
"Kein videospielartiges 360-Grad-Geschwenke am Monitor, keine hochaufgelöste Makroaufnahme bis in den kleinsten Schüsselriss eines Bildes wird jemals diese körperliche Empfindung in einem gebauten Museumsraum ersetzen können, schlicht deshalb, weil es virtuell ohne jede körperliche Basis bleibt. Je weiter in den nächsten Wochen also der – zeitliche und körperliche – Abstand zu den Museen rückt, desto schmerzlicher wird man die Originale vermissen", schrieb Stefan Trinks in der "FAZ" über virtuelle Ausstellungsrundgänge. Ok, Boomer! Ein virtueller Ausstellungsrundgang ist die Dokumentation einer Ausstellung und - das habe ich geschrieben - "ein virtueller Museumsrundgang ist vergleichbar mit der Reproduktion eines Kunstwerks beispielsweise in Form einer Postkarte." Wer nicht zu einer Ausstellung in eine andere Stadt oder in ein anderes Land reisen kann, hat so die Möglichkeit, einen Eindruck davon zu bekommen. Und das ist doch viel besser, als die Ausstellung gar nicht sehen zu können. Vielleicht wird 2021 das Jahr der virtuellen Ausstellungsrundgänge, weil wir immer noch nicht wirklich reisen werden können.
Online Viewing Rooms
Es gibt eine Sache, die noch mehr gehasst wird als virtuelle Ausstellungsrundgänge und das sind Online Viewing Rooms (OVR). Hier liegt, glaube ich, ein Missverständnis vor. Ich erinnere mich an einen Text, in dem sich die Autorin darüber wunderte, dass Galerien virtuelle Ausstellungsrundgänge und OVRs haben, das sei verwirrend. Warum überhaupt beides? Man wundert sich ja aber auch nicht darüber, dass es in einer Galerie eine Ausstellung gibt und dass es zu dieser Ausstellung eine Liste mit den Werken und den Preisen gibt. OVRs sind gewissermaßen die digitale Werk- und Preisliste. Ein OVR will und kann keinen Stand auf einer Messe ersetzen. Dafür wird es irgendwann sicherlich eine gute Lösung geben, in Form von virtuellen Messen mit sozialer Interaktion (Chat, Audio, virtuelle Präsenz). Und diese virtuelle Lösung wird Galerien die Messeteilnahme ermöglichen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht vor Ort teilnehmen können oder wollen.
Online-Ausstellungen
Das Jahr 2020 war das Jahr der Netzkünstler*innen. Die Netzkünstler*innen selbst waren semi-begeistert, weil sie trotz all der plötzlichen Aufmerksamkeit genau so plötzlich zu Pausenclowns im Shutdown wurden. Nicht immer, aber doch oft in den Institutionen, die sich vorher nicht wirklich für Netzkunst interessiert haben. Olia Lialina, die wohl bekannteste und renommierteste Netzkünstlerin, twitterte Mitte April: Unhöflich sei es, Einladungen zu Ausstellungen etc. mit den Worten zu beginnen: "Nun, da aktuell alles geschlossen ist und abgesagt werden musste …"
Die Aufmerksamkeit war da, aber eben aus den falschen Gründen. Und dann las man immer wieder in Rezensionen von Online-Ausstellungen, dass das alles nichts sei und man sich nun nur noch mehr auf den Besuch eines Museums oder einer Galerie freue. Ja gut, wenn einen Handball nicht interessiert und man sich trotzdem ein Spiel in einer Turnhalle anschaut, kann man es sicherlich auch kaum erwarten, wieder in einem vollen Fußballstadion zu sitzen. Aber deshalb spricht man nicht dem Handball die Daseinsberechtigung ab, nur weil einen diese Sportart nicht interessiert.
Wie es eben so ist mit der Kunst, man muss die Geschichte eines Mediums kennen, um es zu verstehen. Die Netzkunst geht so wenig wieder weg wie das Internet, ganz im Gegenteil, sie wird immer präsenter werden. Augmented Reality ist vielleicht aktuell die Brücke zu sozialen Erlebnissen in VR.