Ihr Werk wurde in den 2010er-Jahren wiederentdeckt, da hatte sich Marianne Wex längst aus der Kunstproduktion zurückgezogen. Drei Jahrzehnte zuvor war die 1937 in Hamburg geborene Künstlerin und Autorin schwer erkrankt, setzte sich auf Reisen nach Indien, Japan oder Kanada mit Selbstheilung auseinander und arbeitete bis zuletzt als Heilpraktikerin.
An den Akademien in Hamburg und Mexiko City ausgebildet, beschäftigte sich Wex zunächst mit Malerei. Das Sammeln und Fotografieren von Bildern zum Thema Körpersprache, die ihr ursprünglich als Malvorlagen dienen sollten, verselbständigte sich in den 1970ern zu einer bild- und gesellschaftskritischen Spurensuche.
Ihre Arbeit über den keineswegs kleinen Unterschied zwischen weiblichem und männlichem Habitus mündete in Wex’ Zyklus "Let's Take Back Our Space", der als Buch erschien und 1977 in der Kreuzberger Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst ausgestellt wurde.
"Mal genau hinschauen"
"Männer nehmen Raum ein, Frauen machen sich klein", fasste Wex ihre Ergebnisse 2002 in der Zeitschrift "Emma" zusammen, "Das war so in den 70er-Jahren. Und das ist auch heute oft noch oder wieder so. Mal genau hinschauen". Sie sei im Verlauf ihrer Studien selbst erstaunt darüber gewesen, in welchem Maß mediale Bilder Alltagsverhalten steuerten, erzählte die Künstlerin: "Da es mir zunächst nicht um die bewusste Pose, sondern um das unwillkürliche, eher unbewusste Einnehmen von Haltungen ging, achtete ich beim Fotografieren darauf, nicht bemerkt zu werden. Als ich die Ergebnisse meiner Arbeit mit Abbildungen in Zeitschriften und in der Werbung verglich, wurde mir klar, dass die Unterschiede gering sind. Frauen und Männer bewegen sich tatsächlich so, wie es ihnen von ihren Leitbildern suggeriert wird."
Ob Wex hier Ursache und Wirkung verwechselt, ob die Klischees unbedingt "Leitbilder" sind, muss Jede/r für sich entscheiden. Dass man die Interpretationen der Künstlerin problematisch finden kann, mindert die Bedeutung ihrer Analysen nicht.
"Auch mein eigenes Verhalten wurde überdeutlich"
Im Jahr 2009 stellte die Focal Point Gallery im britischen Essex das historische Projekt erneut zur Diskussion. Und es versteht sich, dass der Zyklus mit dem kämpferischen Titel "Let's Take Back Our Space" vor allem im Kontext von #Metoo und der "Manspreading"-Debatte dann wieder gefragt war: 2018 war eine Auswahl der Serie in der Berliner Galerie Tanya Leighton zu sehen. Street photography trifft in dem Zyklus auf eine strenge Typologie, wie man sie von Bernd und Hilla Becher kennt.
In verschiedenen Kapiteln untersuchte Wex, wie Frauen und Männer in der Sonne liegen, wie sie auf Stühlen sitzen, wie sie stehen, wie sie ein Champagnerglas halten. Wie besitzergreifend Frauen mitunter von Männern angepackt wurden. Devot die eine, demonstrativ der andere. Dazu verfasste die Diagnostikerin kurze anthropologische Abhandlungen. Aktuell werden Teile des Wex-Atlas im Berliner Gropiusbau in der Themenschau "Masculinities" gezeigt. Das Werk befindet sich heute in der Sammlung des New Yorker MoMA.
"Während dieser Arbeit wurde mir natürlich auch mein eigenes Verhalten überdeutlich", bekannte Wex in der "Emma"; "Ich begann zu experimentieren. Ich nahm bewusst ´männliche´ und bewusst ´weibliche´Haltungen ein und horchte gleichzeitig in mich hinein, was ich dabei empfand... Hielt ich mich sehr ´weiblich´, fühlte ich mich mutlos und an den Rand gedrängt; hielt ich mich eher ´männlich´, fühlte ich mich offensiver und stärker." Jetzt ist Marianne Wex im Alter von 83 Jahren gestorben.