Die Vorgänge sind schnell zusammengefasst: Ein Mann entscheidet "Wir brauchen einen neuen Kanon". Den schreibt er dann auch gleich selbst und entscheidet außerdem, dass sein Kanon am besten mit ganz vielen Männern auskommt. Logisch, ganz viele Frauen sind da nicht bei ihm und den anderen Männern und erstellen in wenigen Tagen einen noch neueren, ausschließlich weiblich besetzten Kanon. Der Kanon von Thomas Kerstan ist in der "Zeit" Mitte August erschienen, #dieKanon von Sibylle Berg und zehn weiteren Frauen wenige Tage später auf "Spiegel Online" und "Watson".
Thomas Kerstan, Bildungspolitischer Korrespondent der "Zeit", gibt in seinem Artikel großzügig zu, dass er nur wenige Werke von Frauen aufgenommen hat. Die Kritik antizipierte er mit den Worten: "Auch meinem Kanon wird sicher vorgeworfen werden, die Werke 'toter weißer Männer' seien überrepräsentiert." Seine Begründung, warum dem so ist: "Das liegt daran, dass die stilprägenden, typischen, populären Werke der Vergangenheit vorwiegend von Männern stammen."
In seinen Kanon haben es die "Mona Lisa" und die "Geburt der Venus", huch, Moment, in seinen Kanon haben es unter anderem Alice Schwarzer, Anne Frank und Joanne K. Rowling geschafft. Die Sparte Kunst füllt er mit Michelangelos David, Robert Capas fallendem Soldaten, Botticellis "Geburt der Venus", Picassos "Guernica", da Vincis "Mona Lisa", Malewitschs "Schwarzem Quadrat" und Caspar David Friedrichs "Wanderer über dem Nebelmeer".
Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk erklärte Simone Meier, Kulturredakteurin bei "Watson", dass #dieKanon "so untot wie möglich" ist. Bald soll eine ergänzte Fassung unter www.diekanon.org abrufbar sein. Auf Twitter wurde beispielsweise schnell angemerkt, dass der Blick auf die Werke von Frauen eurozentristisch geprägt sei. Thomas Kerstan derweil freute sich auf Twitter, dass seine Kanon-Idee aufgegriffen und weitergeführt werde, denn, wie er schreibt, genau diese Debatte wolle er.
Das stimmt, irgendwie zumindest, diese Debatte wollte er. Auf "Zeit Online" besteht die Möglichkeit, "seinen" Kanon zu ergänzen. "Was müssen wir wissen?", wird dort gefragt, und die Leser sind dazu aufgefordert, Werke zu empfehlen und sich einen Lehrplan auszudenken, der "wirklich auf das Leben vorbereitet".
Es scheint für Kerstan eine absurde Vorstellung zu sein, nicht die Karte "alter weißer Mann" zu spielen. Und natürlich hätte es "seinen" Kanon weniger zu "seinem" gemacht, wenn er eine weibliche Co-Autorin zu Rate gezogen hätte. Wie #dieKanon zeigt, fündig wäre er rasend schnell geworden.
Im Clash der Geschlechter geht es, besonders auf Twitter und damit auch in den Medien, langsam einen Schritt vor und rasant sieben Schritte zurück. #MeToo, #MeTwo, #MenAreTrash, die Fronten in den Debatten sind verhärtet, unerbittlich werden Schläge ausgetauscht, alle sind sich einig, dass alle sich so schnell nicht einig werden. Kurz tritt der #Hutbürger auf, er will nicht fotografiert werden, kurz ist Ruhe, weil sich plötzlich ein gemeinsamer Feind gefunden hat, der sich nur zu leicht mit Hohn und Spott vernichten lässt.
Zwischendurch hat Till Raether im "SZ Magazin" versucht, seine alten, weißen Männer-Kollegen" zu besänftigen. "Wer mich alt nennt, sagt, dass ich aus einer Zeit komme, in der Männer es noch leichter hatten als heute, und ich finde diesen Hinweis wichtig." Eingängiger kann man es nicht auf den Punkt bringen. Und weiter schreibt er: "Ja, keiner von uns hat es sich ausgesucht, alt, weiß und ein Mann zu sein. Aber jeder einzelne sucht sich aus, ob er weiter auf Kosten anderer davon profitieren möchte. Vorteile aufgeben ist schwierig, und ich bin überzeugt, die meisten meiner Privilegien sehe ich nicht mal, oder ich lüge mir in die Tasche. (…) Es ist nichts Schlechtes, ein alter weißer Mann zu sein. Im Gegenteil. Es war eben immer überproportional gut, im Sinne von: buchstäblich vorteilhaft. Über diese Vorteile und wie wir sie abgeben können, müssen wir reden."
Wir müssen auch darüber reden, dass es wunderbar ist, wenn sich Frauen zusammenschließen und einen rein weiblichen Kanon erstellen. Nur ist das eine kurzfristige Lösung, eine radikale und wütende Lösung. Mit "Wut im Bauch", so hat es Simone Meier dem Deutschlandfunk erzählt, ist #dieKanon an einem Wochenende entstanden. Es muss eine langfristige Lösung gefunden werden, #dieKanon zeigt eindrücklich, wie die Debatte vorangetrieben werden kann, wie groß die Bereitschaft ist, das Gespräch zu suchen, um gemeinsam den Kanon zu hinterfragen.
Im aktuellen "Spiegel" nimmt sich Ulrike Knöfel den kunsthistorischen Kanon vor, das anlässlich der Ausstellung "Balthus" in der Baseler Fondation Beyeler. Balthus ist für seine erotischen Kinderbilder bekannt, junge Mädchen, sehr junge Mädchen, hat er sexuell anzüglich dargestellt, der Vorwurf der Pädophilie steht im Raum, Balthus selbst spricht von einer pornografischen Spannung. Knöfel stößt sich daran, dass Balthus im Katalog zur Ausstellung als einer "der letzten großen Meister der Kunst des 20. Jahrhunderts" bezeichnet wird. "Genau das aber", schreibt sie, "dass Balthus ein überragender Künstler gewesen sei – ist nur eine pure Behauptung. (...) Am Beispiel dieses Malers ließe sich – eigentlich – wunderbar nachvollziehen, wie Bekanntheit bloß gemacht wird, wie Kunstgeschichte geschrieben wurde und wird, sie ergibt sich ja nicht wie von allein. Was abgelehnt wurde und was gefeiert wird, das lebt von Moden, Beziehungen, Vorurteilen, eben genauso von Behauptungen."
Das Ergebnis, so Knöfel: "Aus ihnen wiederum ergibt sich ein sogenannter Kanon. Stellt jemand den Kanon jedoch nur vorsichtig infrage, wird er oder sie reflexhaft zum Gegner der Kunstfreiheit erklärt. Niemand also kritisiert die seit Jahrzehnten andauernde Überhöhung diese fast schon absurde Überschätzung eines vermeintlichen Genies. Denn das hieße, auch den Kanon, nein, die ganze Kunstgeschichte und ihre Mechanismen anzuzweifeln."
Der Anfang ist gemacht.