Die blassblauen Augen von Gertrut Roche blicken eindrücklich aus dem Foto heraus. Die 1929 in Polen geborene Frau trägt einen rosafarbenen Ohrring und eine schmale Kette. Marcel D. wurde fünf Jahre später ebenfalls in Polen geboren, in seinem Blick liegt etwas Mildes. Andrzej Korczak-Branecki, 1930 in Warschau zur Welt gekommen, reißt die Augen weit auf und kneift den Mund zusammen.
Alle drei sind Holocaust-Überlebende. Sie wurden von den Nationalsozialisten eingesperrt, Familienmitglieder und Freunde ermordet. Seit Montag hängen ihre großformatigen Porträts in der Eingangshalle des Hauptgebäudes der Vereinten Nationen in New York, wo hunderte Menschen jeden Tag vorbeikommen.
"Survivors, Victims, Perpetrators" (Überlebende, Opfer, Täter) heißt die Ausstellung, die bis zum 28. Februar angesetzt ist. Organisiert wurde sie von der Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz in Berlin und dem Mannheimer Fotografen Luigi Toscano, mit Unterstützung der Vereinten Nationen und der deutschen Bundesregierung zum Gedenken an den Holocaust.
Ursprünglich seien einzelne Ausstellungen geplant gewesen, sagt Matthias Haß von der Gedenkstätte. Aber dann habe man die Pläne zusammengeworfen. "Relativ schnell war das toll, dass sich das ergänzte - diese eindrücklichen Porträts der Überlebenden, die einen großformatig angucken, und die vermitteln, worum es geht. Und das, was wir eben machen, ist der Blick auf die Täter." Auf 13 Tafeln wird die Wannseekonferenz, bei der 1942 die Organisation des Massenmords an den Juden besprochen wurde, erklärt.
Drumherum hängen die Fotos von Toscano, mannshohe Porträts von Gesichtern. Ihre Augen verfolgen die Besucher durch den ganzen Eingangsbereich der Vereinten Nationen. "Um ganz ehrlich zu sein: Ich kann's noch gar nicht fassen, ich hab New York im Kopf, aber so richtig realisieren kann ich das gerade gar nicht", sagt Toscano. "Für mich ist es toll, es ist schön und es ist auch schön, weil ich hab ja zu einigen Überlebenden noch Kontakt und die sind sowas von stolz und glücklich." Einer habe gar am Telefon geweint.
Seit drei Jahren fotografiert Toscano Holocaust-Überlebende, mehr als 200 inzwischen, und ist dafür in sechs Länder auf der ganzen Welt gereist. "Mir war es wichtig, nicht nur die jüdischen Opfer zu porträtieren, sondern alle, die vom Holocaust betroffen waren - sei es die Sinti und Roma, sei es die politisch Verfolgten, Homosexuellen, oder Zwangsarbeiter." Seine Bilder waren bereits unter anderem in der Ukraine und in Berlin zu sehen und sollen im April auch nach Washington kommen. "Ich ergänze das Projekt immer weiter", sagt Toscano. Gerade hat er in Washington noch einmal 15 Überlebende getroffen und fotografiert.
"Ich nähere mich den Menschen einfach ganz menschlich", sagt Toscano. Manchmal habe er Stunden da gesessen, weil die Überlebenden ihm auch ihre Geschichte erzählt hätten. "Und dieses ganze, nennen wir es mal Ritual, hatte verschiedene Etappen und es war bewegend, lustig alles zugleich", so Toscano. Dadurch sei auch Vertrauen entstanden. "Und erst am Schluss habe ich dann sozusagen die finale Frage gestellt: Hey, darf ich Dich fotografieren?" Einige Menschen hätten ihre ganze Familie zusammengerufen, weil es das erste Mal gewesen sei, dass sie ihre Geschichte erzählt hätten.
Das Gedenken an den Holocaust war für Toscano schon früh ein wichtiges Anliegen. "Ich bin Italiener, aber ich bin in Deutschland geboren und Deutschland ist für mich meine Heimat und da kann ich nicht so tun, als sei das nicht mein Part. Ich muss und ich will mich identifizieren und integrieren und da gehört dann auch das dazu."
Der Geschichtsunterricht in der Schule habe ihn nicht ausreichend über das Thema informiert, sagte Toscano. "Es waren keine guten Lehrer da, die uns Fragen beantwortet haben." Als 18-Jähriger habe er sich dann selbst auf den Weg nach Auschwitz gemacht. Das habe ihn sehr geprägt und später begleitet. "Und erst viel später als ich Fotos gemacht habe, da habe ich für mich beschlossen, ich möchte dieses Thema gerne angehen und das war zu dem Zeitpunkt, als der Antisemitismus in Europa und auch anderswo immer mehr wurde", so der Fotograf.
Mit den Fotos bei den Vereinten Nationen will Toscano nun aufklären - und erinnern. Denn, "wenn man die Vergangenheit vergisst, ist man verdammt, sie zu wiederholen." Und die Bilder zeigen erste Wirkung, vor allem einige, die außen am Zaun des UN-Geländes auf der 1st Avenue angebracht sind. "UN-Mitarbeiter sind auf mich zugekommen, weil sie erkannt haben, dass ich derjenige bin, der die Bilder gemacht hat, und sie haben gesagt: 'Luigi, es ist unglaublich, normalerweise wechselt ein New Yorker nicht die Straßenseite und jetzt wechseln sie die Straßenseite, um sich das anzuschauen!'"