Der Mantel, den Wladimir Tatlin im Jahr 1923 entwarf, ist so minimalistisch, dass er heute mühelos für eine Kreation von Jil Sander oder Martin Margiela gehalten werden könnte. Und er verkörpert eine Revolution, die weit über die Mode hinausging. Eine neue Ästhetik für eine neue Gesellschaft zu schaffen – das war die Aufgabe, der sich Tatlin und Künstlerkollegen wie Alexander Rodtschenko, El Lissitzky, Kasimir Malewitsch oder Ljubow Popowa in jener Zeit stellten. Die Konstruktivisten wollten direkt ins Leben hineinwirken – einem Teeservice widmeten sie sich mit der gleichen Leidenschaft wie einem Architekturmodell, dem Möbeldesign oder dem Entwurf eines Ofens. Oder eben einem Mantel.
"An den Schultern und den Hüften ist er auffallend weit, am Saum enger", präzisierte Tatlin seinen Entwurf. Der konische Schnitt sollte verhindern, dass kalte Luft an den Körper kommt. "Die thermische Isolierung hält den Träger warm und schafft optimale hygienische Bedingungen", so Tatlin. Das Material war wasserabweisend, und da der Mantel aus nur drei unabhängigen Teilen zusammengenäht wurde, konnte bei Abnutzung jederzeit ein Element ausgetauscht werden. Funktionalität ersetzte Ornament, die soziale Stellung des Trägers verschwamm hinter standardisierten Maßen. Tatlins Mode zielte nicht auf Prestige und Distinktion – er wollte das Beste für alle schaffen.
Tatlins Mantel ging nie in Produktion, es fehlte an Geld und Ressourcen, und spätestens mit der Machtergreifung Stalins war die konstruktivistische Avantgarde abgeschrieben. Doch in einer Berliner Ausstellung ist das Stück jetzt zu sehen. "International Standard Coat" nennt die Künstlerin Alexandra Hopf ihre Rekonstruktion, die auf historischen Fotografien sowie dem Schnittmuster beruht, das Tatlin 1924 in der Zeitschrift "Rotes Panorama" publizierte.
Hopf setzt sich seit Jahren mit dem Textildesign der historischen Avantgarden auseinander, sie hat Stoffbilder geschaffen und Neuinterpretationen von Entwürfen der Russin Warwara Stepanowa oder des italienischen Futuristen Thayaht kreiert. Mode interessiert die Künstlerin als Seismograf gesellschaftlicher Veränderungen. Als Stoff, an dem sich unser Drang zu Individualität und unsere Neigung zu Uniformität immer wieder in die schönste Widersprüche verstrickt.
Die Herstellung des Tatlin-Mantels führte von der historischen Recherche bis zur Materialkunde: Es ist ungewiss, welchen Stoff Tatlin ursprünglich im Sinn hatte, und so wählte Hopf als Oberstoff grobes Leinen – eine Referenz an die Leinwand der Malerei. Das Innere besteht aus modernem, atmungsaktivem Silbergewebe, eine kleine Extravaganz sind die Kuhhornknöpfe aus den 20er-Jahren. Die ideale Form, die Tatlin anstrebte, bezieht Hopf heute auch auf Fragen der Nachhaltigkeit: Könnte die Zeitlosigkeit des "International Standard Coat" dem zerstörerischen Zyklus aus Ausbeutung, Umweltverschmutzung und Ressourcenverschwendung entgegenwirken, der mit jeder Modesaison von neuem beginnt?
Wie für Tatlin gestaltete sich auch für Hopf die Herstellung als herausfordernd: Die Suche nach geeignetem Stoff, vor allem aber die Suche nach qualifizierten Näherinnen und fair arbeitenden Betrieben war mühsam und kostspielig – der Weg zu einem massenkompatiblen Kleidungsstück führt heute ausgerechnet über kleine Manufakturen. Auf 100 Stück ist der "International Standard Coat" limitiert, er ist in verschiedenen Größen erhältlich und kostet 1500 Euro. Er dürfte die Saison überstehen.