Vier, fünf Leute sind wir, eine kleine Gemeinschaft von leicht schläfrigen Filmkritikern, die sich spätmorgens während der Berlinale in einem Café einfinden. Man hat die Neun-Uhr-Presseaufführung der Wettbewerbsschiene gesehen und schiebt sich dann zur mittäglichen Presseaufführung wieder in die Filmabfertigungshalle namens Berlinale-Palast.
Aber zwischendurch der Kaffee. Und immer kleine Auseinandersetzungen. Ob die Performance Jude Laws als genialischer Schriftsteller Thomas Wolfe subtil oder aufgeblasen-theatralisch war ("Genius"). Oder: Was Bjarne Mädel mit Julia Jentsch in "24 Wochen" getrieben hat, war doch kein Analverkehr! Entgegnung: Doch! Astreiner Analverkehr! Oder: Deine oberkritische Art nervt! Antwort: Besser als so eine Filmversteherin wie Katja Nicodemus – die ja immer alles gut findet! Retourkutsche: Hast wohl nicht auf das Berlinale-Ranking im Tagespiegel geguckt, Nicodemus bewertet "Alone in Berlin" mit "sehr schlecht"!!
Irgendwann ist jede Gutmütigkeit zuende, ich verstehe das, obwohl ich die mittelmäßige Verfilmung von Falladas "Jeder stirbt für sich allein" nicht völlig vergurkt fand. Ein Kollege im Kinotreppenhaus flippte richtig aus: "Warum müssen die immer Scheißfilme über unsere Scheißvergangenheit machen?" Es geht um ein Paar in Nazideutschland, dass mit Flugblättern gegen Hitlers Krieg agitiert, nachdem ihr Sohn gefallen ist. Einen Bären würde ich der Romanverfilmung auch nicht geben. Aber Emma Thompson und Brendan Gleeson reißen es raus, sie spielen das Ehepaar Quangel – die Liebe ist mit den Jahren etwas eingerostet – , das wider die allgemeine Führer-Begeisterung von einem Moment zum anderen plötzlich klarsieht. Am Ende kommen sich die beiden emotional wieder näher. Aber nichts mit Analverkehr oder so.
Den sieht man erstaunlich häufig auf dieser Berlinale: in André Téchinés energetischem Coming-of-Age-und-Coming-Out-Drama "Quand on a 17 ans" (schwer bärenverdächtig) und – andeutungsweise – in "Chi-Raq" von Spike Lee (außer Konkurrenz). Ein Musical nach Aristophanes, das die Liebesverweigerungslist von Lysistrata in die brandgefährliche South Side von Chicago versetzt. Schöner Slogan: "No Peace, no Pussy!" Der Titel "Chi-Raq" mixt Chicago und Irak, darin steckt die These, dass sich die waffenverliebte Aggressivität der USA nicht mehr gegen Schurkenstaaten, sondern nach Innen richtet. Die Zahlen sind tatsächlich bestürzend. Zwischen 2001 und 2015 sind in Chicago 7356 Menschen durch Waffengewalt gestorben. In derselben Zeitspanne sind etwa 7000 US-Soldaten im Irak und in Afghanistan gefallen. Solche Statistiken machen einen fertig.
Mitunter lechzt man im winterlichen Festivalbetrieb nach diesen läppischen Sommerkomödien, über deren Niveau man auch nicht streiten muss.