Die Verbindung vom Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) zur Documenta 14 ist keine einfache, lineare, aber sie lässt sich ziehen. Knapp eine Woche nach der Festnahme des Verdächtigen Stephan E. werden dessen Verbindungen in die Neonazi-Szene und ein mögliches rechtsradikale Tatmotiv untersucht. Wie weit war er in rechte Netzwerke verstrickt, gibt es vielleicht sogar Verbindungen zum NSU-Komplex?
Die Ungereimtheiten rund um den Mord an Halit Yozgat, der als neuntes Opfer des NSU am 6. April 2006 in seinem Kasseler Internetcafé erschossen wurde, führen schließlich zur Kunst. Denn auf der Documenta 14 vor zwei Jahren war auch die Initiative Society of Friends of Halit präsent. Die Mitglieder - Familienangehörige wie Kulturschaffende - fordern eine lückenlose Aufklärung des Verbrechens und der Rolle der Behörden, die ihrer Meinung nach noch immer nicht erfolgt ist. Außerdem steuerte das britische Künstler- und Wissenschaftler-Kollektiv Forensic Architecture eine Videoarbeit zur Weltkunstschau bei. Ausgangspunkt ihrer Ermittlung war die Anwesenheit des damaligen hessischen Verfassungsschützers Andreas Temme in Halit Yozgats Internetcafé - unmittelbar bevor oder sogar während die tödlichen Schüsse fielen.
Ergebnis: Temmes Version kann nicht stimmen
Forensic Architecture schufen ein Modell des Internetcafés und stellten den Aufenthalt Temmes so nach, wie der Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes ihn der Polizei beschrieben hatte. Temme hatte stets beteuert, weder den Schuss gehört, noch den Leichnam des Opfers gesehen zu haben. Anhand von Zeugenaussagen, Login-Daten der Computer, Audio- und Blickanalysen und der Verbreitungsdynamik des Schießpulvergeruchs überprüften die Künstler diese Behauptung. Das Ergebnis, das auf der Homepage des Kollektivs nachzuvollziehen ist, war eindeutig: Temmes Version kann nicht stimmen. Das Verfahren gegen ihn wurde jedoch eingestellt - obwohl er auch im NSU-Ausschuss des hessischen Landtags widersprüchliche Angaben machte.
In den Ermittlungen im Mordfall Lübcke taucht Andreas Temme nun wieder indirekt auf. Der Ex-Verfassungsschützer wurde nach den Vorwürfen gegen ihn ins Regierungspräsidium Kassel versetzt - und arbeitet damit genau in der Behörde, der der getötete Walter Lübcke vorstand. Zuerst war er dort in der Personalabteilung tätig, dann wechselte er ins Ressort Umweltschutz. Außerdem führte er in seiner Zeit als Verfassungsschützer den V-Mann Benjamin G., der in der Kasseler Neonazi-Szene aktiv war. Dieser soll im NSU-Ausschuss zu Protokoll gegeben haben, den Tatverdächtigen im Fall Lübcke, Stephan E., zu kennen. Benjamin G. könnte also ein Kettenglied sein, das Stephan E. mit Andreas Temme verbindet.
Akte für 120 Jahre verschlossen
Die Arbeit von Forensic Architecture steht in keinem direkten Zusammenhang mit dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten. Doch durch die neueste Entwicklung bekommt eine Forderung des Künstlerkollektivs neue Dringlichkeit. Seit der Arbeit an ihrem Video haben Forensic Architecture den hessischen Verfassungsschutz aufgefordert, eine Akte zum NSU freizugeben, die mit 120 Jahren Sperrfrist belegt ist. Zuletzt hatten zwei Mitglieder der Gruppe, Simone Rowat und Christina Varvia, diese Forderung im Monopol-Interview Anfang 2019 bekräftigt. In der verschlossenen Akte werden auch Informationen über Andreas Temme und dessen Anwesenheit in Halit Yozgats Internetcafé vermutet.
"Es ist eine Schande, dass dieses Dokument nicht offen ist", sagte Simone im Monopol-Gespräch. "Wenn ein politischer Wille zur Transparenz da wäre, gäbe es diese Sperre für das Temme-Dokument nicht. Wir wollen wirklich Druck erzeugen, damit dieser Bericht zugänglich wird." Bisher hat dieser Druck, der auch von der Opposition im hessischen Landtag, verschiedenen Kulturinitiativen und inzwischen auch von einigen Bundespolitikern ausgeht, noch keine konkrete Wirkung erzielt. Das Video von Forensic Architecture wurde zwar im NSU-Untersuchungsausschuss diskutiert, dort wurde es aber als Beweismittel abgelehnt, weil es "nur Kunst" und keine verlässliche Analyse sei.
Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, das Werk noch einmal sehr genau anzusehen. Die Aufklärung des Mordfalls Lübcke und die Aufarbeitungen der Behördenversäumnisse in der NSU-Ermittlung sind nicht Sache der Kunst. Aber die Kunst hat sehr nachdrücklich die wichtigen Fragen gestellt.