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Der Mond in immer neuen Farben

Wenn Video und Wandzeichnung sich in den Installationen von Zilla Leutenegger begegnen, öffnen sich Fenster zu surrealen Welten. Für die Rotunde des PalaisPopulaire in Berlin hat die Schweizerin jetzt eine neue Arbeit entworfen. Wir haben sie beim Aufbau begleitet

Die Treppe ins Nichts beginnt mit einer weißen Stufe. Groß und fest genug, dass man sie betreten kann, ragt sie aus der Wand. Alle Stufen, die folgen, lassen sich nur noch im Geist erklimmen – denn die Künstlerin Zilla Leutenegger wird sie auf die Wand des Kellergeschosses im wiedererbauten Berliner Prinzessinnenpalais zeichnen. Die Treppe wird sich halbkreisförmig an der Wand emporwinden, um in einer Ecke zu verschwinden. Wohin?

"Sie führt in Räume, in die man sich gedanklich zurückziehen kann", ruft Zilla Leutenegger in weichem Schweizer Akzent gegen den Lärm der Baustelle an. Die 50-Jährige ist heute Morgen mit ihrem Assistenten aus Zürich nach Berlin geflogen, um am Boulevard Unter den Linden vor Ort zu arbeiten. Hier im Prinzessinnenpalais, wo bis zum Ende des Ersten Weltkriegs Mitglieder der preußischen Herrscherfamilie wohnten, lässt die Deutsche Bank das in den 60er-Jahren rekonstruierte Gebäude nun zum Ausstellungsort mit mehr als 700 Quadratmetern Schaufläche umbauen. Ende September eröffnet das PalaisPopulaire – und Leuteneggers Arbeit wird einer der Höhepunkte sein.

Noch sind berlinernde Bauarbeiter am Werk. Abklebeband und Malerteppich liegen herum, es bohrt, es hämmert, es ruft, aber Zilla Leutenegger bringt das nicht aus der Ruhe. Für die Eröffnungsausstellung "The World On Paper" bereitet sie zwei Arbeiten vor, die sie für besondere Orte im Palais konzipiert hat: das Kellergeschoss und die ovale Prachttreppe. In ihren Installationen verwebt die Künstlerin ihre Wandzeichnungen so geschickt mit dreidimensionalen Elementen und Videoprojektionen, dass Trompe-l’oeils entstehen, ja surreale Welten.

In Leuteneggers "Sternwarte" im Erdgeschoss wird neben der gezeichneten Treppe eine quadratische Lampe leuchten – kompakt und unscheinbar wie die, auf denen für gewöhnlich Hausnummern angebracht sind. Doch ein Detail verleiht dieser Leuchte eine poetische, fast magische Dimension, die die Besucher aus dem hellen Ausstellungsraum in eine Sommernacht versetzt: Ein Videoprojektor wirft die Silhouetten tanzender Insekten auf die Lampe. Man hört ihr Zirpen und Surren aus einem Lautsprecher. Erinnerungen an laue Abende werden wach.

"Die Nacht war schon immer ein wichtiges Thema für mich", sagt Zilla Leutenegger. "In meinen Arbeiten geht es oft um Situationen, die das Gegenteil von Stress und Trubel des Alltags sind, Momente der Ruhe, der Reflexion. Zum Beispiel wenn ich nachts allein durch meine Wohnung gehe – nur im Licht des Mondes, der Straßenlaternen oder der vorbeifahrenden Autos."

Der Mond taucht in Zilla Leuteneggers Werken schon seit zwanzig Jahren auf – in immer neuen Variationen. "Ich habe ein Vokabular von Arbeiten, das ich auf die jeweiligen Räume anpasse", erklärt sie, "und es gibt unterschiedlichste Möglichkeiten, diese Elemente einzusetzen." Im großen Treppenhaus des Palais Populaire wird die Künstlerin ihren "Moon Diver" anbringen, der erstmals 2015 in der Galerie Peter Kilchmann in Zürich zu sehen war.

Die Arbeit besteht aus zwei Motiven: einem Kran, den Zilla Leutenegger mit anthrazitfarbenen Strichen über zwei Stockwerke direkt auf die helle, gewölbte Wand des Treppenhauses zeichnen wird, und dem Mond, der als Video projiziert wird. "Es wird so aussehen, als ob der Kran den Mond an Seilen nach oben zieht, ihn zur Seite schwenkt, zurückschwenkt, um ihn dann wieder abtauchen zu lassen", erklärt die Künstlerin. Jedes Mal wenn der Mond wieder auftaucht, erscheine er in einer neuen Farbe – "vom blutroten Mond, den es auch in der Realität manchmal gibt, zum weißen kalten Mond, zum grünen, zum pinkfarbenen Mond. Mir gefällt die Leichtigkeit an diesem Spiel mit der Farbe."

Zilla Leutenegger steht im Treppenhaus des zukünftigen PalaisPopulaire zwischen Leitern und Gerüsten. Sie strahlt: "Ich habe mich heute extrem gefreut, als mir klar wurde, wie 'Moon Diver' in diesem Treppenhaus wirken wird. Das Potenzial ist viel größer, als ich dachte." Noch nie habe sie die Installation in diesen Dimensionen zeigen können – mit einem gezeichneten Kran, der über mehrere Stockwerke reichen wird. "Anfangs war das eine kleine Arbeit", erinnert sie sich. "Der Ausgangspunkt war ein Foto, das mir meine Mama geschickt hat. Darauf war ein Kran zu sehen, der gegenüber von ihrem Haus stand. An den Kran hatte eine Firma als Werbung ein riesiges Zett gehängt."

Ein Zett für Zilla – das baumelte auch in der Ursprungsversion der "Moon Diver"-Installation am Kran. Zwischen den vielen farbigen Monden wurde es irgendwann unvermittelt hochgezogen. Doch auf diesen Bruch verzichtet die Künstlerin in der neuen Version ihrer Arbeit: "Ich hatte das Gefühl, das Zett nicht mehr zu brauchen. Es steckt eine schöne Geschichte hinter diesem Buchstaben - aber ich stehe ja nicht jeden Tag in der Ausstellung neben der Installation, um diese Geschichte zu erzählen." Deshalb ein neuer Name für die neue Version der Arbeit: "Moon Diver II".

Nichts soll mehr vom Mond ablenken, dem klaren Protagonisten in Zilla Leuteneggers Installation. In der Videoprojektion scheint er schwer in den Seilen zu hängen. "So wie der Kran ihn durch die Gegend hievt, ist er träge", beobachtet die Künstlerin. "Aber kann man sich das überhaupt vorstellen: einen Mond, der sich so dirigieren, hochheben und runtertauchen lässt?"

Die Kunst der Schweizerin regt zum Rätseln, zum Träumen an. Die gebürtige Züricherin ist ausgebildete Textilfachfrau. Bevor sie sich 1995 - damals ist sie schon Ende Zwanzig – doch noch entschließt, Kunst zu studieren, arbeitet Zilla Leutenegger als Einkäuferin für eine Bekleidungsfirma. "Ich musste mich erst in einen Künstler verlieben, um zu begreifen, dass man so auch leben und arbeiten kann", erinnert sie sich.

Inzwischen betreut sie selbst Studierende im freien Zeichnen an der ETH Zürich, hat Arbeiten in Schulen, Krankenhäusern, im öffentlichen Raum realisiert. Ihre Werke sind in der renommierten Sammlung Goetz vertreten und die Münchner Pinakothek der Moderne hat ihr 2015 eine große Einzelausstellung gewidmet: 400 Quadratmeter bespielte Zilla Leutenegger für "Ring My Bell" mit ihrem Werkzyklus "Apartment", der zwischen 2004 und 2009 entstanden ist. Von der großzügigen Sieben-Zimmer-Wohnung, die sie im Ausstellungsraum mitten in München einrichtete, träumen manche Besucher und Wohnungssuchende noch heute.

Die Eingangsarbeit der Münchner Ausstellung "Ring My Bell" – die von projizierten Insekten umschwirrte Außenleuchte – wird jetzt in Berlin als Teil der Installation "Sternwarte" im Kellergeschoss wiederauftauchen. "Meine künstlerische Arbeit funktioniert nach nunmehr zwanzig Jahren wie ein Geflecht", sagt Zilla Leutenegger. Für das Projekt im Palais Populaire habe sie nur wenig Zeit zum Planen gehabt, "aber ich fange zum Glück nicht mehr bei Null an, sondern bin in meinem künstlerischen Vokabular zu Hause."

Für heute ist der Arbeitstag auf der Baustelle für Zilla Leutenegger und ihr Team geschafft. Sie haben getestet, wo die Projektoren für "Moon Diver II" und die "Sternwarte" stehen müssen, ob das Video auf der Wand so wirkt wie erhofft. Wenn sie zum nächsten Mal nach Berlin kommt, wird sie den Kran über zwei Stockwerke ins Treppenhaus zeichnen. "Entscheidend ist der Punkt, an dem sich Video und Zeichnung berühren. Der muss stimmen. Das Auge soll den Übergang zwischen dem einen und dem anderen Medium lesen und nicht stolpern", erklärt sie.

Fürchtet sie sich vor dem Moment, in dem sie den ersten Strich auf die riesige helle Wand setzen muss? "Nein, ich freue mich schon darauf", sagt Zilla Leutenegger. "Wenn man als Künstler arbeitet, muss man etwas exhibitionistisch veranlagt sein. Ohne das würde man all die Exhibitionen, die Ausstellungen nicht aushalten. Das wäre eine Tortur." So wie sie es genieße, die erste Linie auf ein leeres Blatt Papier oder eine weiße Wand zu zeichnen, habe es ihr früher in der Disco gefallen, als erste auf die Tanzfläche zu gehen – "ganz alleine, obwohl ich eigentlich schüchtern war. Schon damals habe ich gelernt: Es gibt etwas in mir, das sich gern zeigt – nicht um zu behaupten: Ich kann alles, sondern eher im Moment des Scheiterns."

Auf Perfektion kommt es Zilla Leutenegger nicht an. Ihre Zeichnungen seien nie "richtig im konstruktiven Sinne", betont sie. Aber gerade das leicht Schräge, das Träumerische macht ihre Arbeiten so charmant.