Aufnahmen einer Schriftstellerin

Der Foto-Schatz der Annemarie Schwarzenbach

Das Schweizerische Literaturarchiv stellt 2017 zum 75. Todestag der Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach über 3000 Reisebilder aus ihrem Nachlass auf Wikimedia Commons online. Zu entdecken ist eine unerschrockene Dokumentaristin, die sich in der Zeit des heftigsten Rassismus unter die marschierende Hitlerjugend und in die afroamerikanischen Viertel der Südstaaten traute

War Annemarie Schwarzenbach Uniform-Fetischistin? Diesen Eindruck könnte man bekommen, wenn man einen selektiven Blick in ihren fotografischen Nachlass wirft. Jungs-Kollektive in Respekt einflößender Kleidung fand sie im polnischen Gdingen, in Schweden auf Schloss Gripsholm und selbst in Marokko, wo die Uniformierung mit langen Sackkleidern exzentrische Ausmaße annahm. In Danzig und Salzburg konnte sie den Finger vom Auslöser gar nicht mehr lassen, kaum ein Oberhemd ohne Hackenkreuzbinde. Und die Gesichter misstrauisch, abweisend, mitunter aber auch bei den jungen BDM-Verirrten neugierig auf die ätherisch schöne, aber auch so anders aussehende Fotografin.

Am extensivsten gelang dieser die Beobachtung gemeinschaftsstiftender Maskerade bei ihrer eigenen Spezies. Der Aufmarsch ihrer burschikosen Frauen-Gangs beim Ski-Urlaub in St. Moritz und Zuoz gleicht einer unfreiwilligen Modenschau, die auch heute noch einer Best-of-Strecke in der "Vogue" würdig wäre. Eigentlich ein Skandal, dass man diese mitunter wohl auch nur fürs private Album gedachten, umwerfend lebendigen Zeitimpressionen erst jetzt in ganzer Vielfalt zu Gesicht bekommt.

In den wilden 20ern verunsicherte die Züricher Industriellentochter und promovierte Frau Doktor das progressive Berlin. Androgyn bis zur Oberlippe, intelligent, eigenwillig, lesbisch und zu jeder waghalsigen Aktion bereit, zog die Bohémienne mit Klaus und Erika Mann durch die Szenelokale, bis der Morphium-Lieferant kam. Dann war dem unbekümmerten Hedonismus die Stunde geschlagen, die Nazis zogen die Zügel an, und statt Kurzhaarschnitt dominierten zugezöpfte Jungfrauen das Straßenbild.

Nichts wie weg hier, war nun das Motto der Schwarzenbach in Zeiten längst auch das Private tangierender Unsicherheit. In den 30ern und 40ern traf man sie nur noch in Begleitung ihres Wagens, der Schreibmaschine und der Fotokamera. Was sie in der Ferne gesucht hat, darüber kann man nur spekulieren. Eine Portion Nervenkitzel war sicherlich immer dabei, unterwegs auf eigene Faust, mit Freundin oder ohne, kein Navi und Smartphone, in Ländern wie Afghanistan, Indien, Kongo, Aserbaidschan, Irak oder Persien. Hier entstanden grandios menschenleere Landschaftspanoramen, beinahe ethnologische Studien der Bevölkerung und Einblicke in das Dasein der kolonialen Oberschicht, die in Botschaften und imperialen Villas ihr langsames Leben am Swimmingpool genoss, während die Heimat am Abgrund balancierte.

Wirklich auf dem Eskapismus-Trip konnte Schwarzenbach in dieser maximalen Abgeschiedenheit nicht sein. Davon zeugen ihre in Schweizer Zeitungen veröffentlichten Reisereportagen, in denen sie durchaus kritisch die anschwellenden Krisen der jeweiligen Region ansprach. Beim Anblick der verschleierten Frauen in Kabul schrieb sie etwa: "Wir mögen ja heute in Europa skeptisch geworden sein gegenüber Schlagworten von Freiheit, Verantwortung, gleichem Recht für Alle. Aber es genügt, die dumpfe Knechtschaft von Nahem gesehen zu haben, die aus Gottes Geschöpfen freudlose, angsterfüllte Wesen macht – und man wird die Entmutigung abschütteln."

Angsterfüllte Blicke fand sie überall, bei Elisabeth und Michael Mann, die an dem Urlaub unter französischen Palmen keine rechte Freude finden konnten, in der Markthalle von Lissabon, wo eine Menschenmenge, darunter sicherlich auch Flüchtlinge, ihre Gesichter an die Fensterscheibe eines Zeitungsladens drückte um sich über die politische Situation zu informieren, unter den  Ausgegrenzten, die sich am Eingang einer israelitischen Suppenküche anstellten, das alles registrierte Schwarzenbach, nicht ohne gelegentliche Abstecher zu liebevollen Berufskategorisierungen à la August Sander, wenn sie in Estland ein in sich versunkenes Zirkuspaar einfing, junge Moskauer Arbeiterinnen in Overalls oder die schuftenden Matrosen im Hafen kurz vor ihrer Nordatlantik-Überfahrt.

In den USA läuft die melancholische Antifaschistin zur Hochform auf. Für New Yorker Wolkenkratzer hat sie nur wenige Knips übrig. Es zieht sie unter die Armen, die entmutigten Afroamerikaner in den Südstaaten, Kinder, die auf der Straße verwahrlosen, Fabriken, die die Luft verpesten. Nicht nur in dieser vertrauten, emotional deprimierenden Sozialikonografie zeigt sie sich auch formal bestens informiert über die aktuellen Trends. Viele der Motive könnten aus der Hand einer Dorothea Lange oder Margaret Bourke-White stammen. Auch die betäubende Welt der Werbung drängt sich immer wieder ins Bild, im krassen Kontrast zur Realität, und mitunter muss man an die ebenfalls spät entdeckte Vivian Maier denken, wenn sich Schwarzenbach mit der Kamera in einem Schaufenster spiegelt, das für Lampenbirnen mit der Szenerie einer zum Fürchten gut gelaunten Familie wirbt. Ihre eigene, den Nationalsozialisten zugeneigte Familie hat ihren viel zu frühen Tod mit nur 34 Jahren durch die Zwangseinweisung in eine psychiatrische Klinik beschleunigt. Nach der jahrelangen Drogensucht und Behandlung mit Elektroschocks reichte ein lächerlicher Fahrradunfall, um sie nach all den überstandenen Tausenden Kilometern zur Strecke zu bringen. Immerhin auf zwei Rädern.