Wer sich ab Ende November durch die Nürnberger Innenstadt bewegt, muss Geduld mitbringen. Aller Voraussicht nach wird auch in diesem Jahr wieder großes Gedränge vorherrschen, wenn der Nürnberger Christkindlesmarkt Besucherströme aus aller Welt anlockt. Wem in Anbetracht der großen Menschenmengen der Appetit auf Glühwein und Lebkuchen vergeht, dem sei stattdessen der Weg in die Nürnberger Kunsthalle empfohlen. Dort widmet sich die aktuelle Ausstellung "Delikatessen. Zwischen Kunst und Küche" der Kulinarik aus künstlerischer Perspektive.
Während Sternanis, Zimt, Nelken und Koriander in deutschen Haushalten noch bis ins späte 20. Jahrhundert wohl fast ausschließlich mit der Weihnachtszeit verknüpft waren, hat sich dies inzwischen geändert. Längst findet sich in vielen nordeuropäischen Gewürzschubladen weitaus mehr als die obligatorische italienische Kräutermischung. Im Zeitalter von gefeierten Starköchen, Kochsendungen und Foodies auf Instagram scheint das Thema Kochkunst gegenwärtiger denn je.
Während das Kochen laut Wikipedia lediglich "das Garen oder Zubereiten von Lebensmitteln allgemein" bedeutet, stellt die gehobene Cuisine weitaus mehr Ansprüche. Küchenkünstlerinnen und -künstler wiegen ab, wägen ab, beherrschen ausgefeilte Techniken, entwickeln ganze Philosophien. Ein Blick in die Fotogalerien von Gourmet-Restaurants zeigt, dass das Anrichten von Gerichten fast genauso wichtig scheint wie deren Geschmack, nicht selten haben die Speisen skulpturalen Charakter. "Zwischen Kulinarik und bildender Kunst lassen sich zahlreiche Parallelen finden: Hier wie dort geht es um Kreativität, Können, Konzeption, Komposition und sinnliches Erleben", heißt es treffend im Editorial des Katalogs zur Nürnberger Ausstellung. Kuratorin Anne Schloen hat dafür 23 sehr unterschiedliche Positionen zusammengestellt, die sich allesamt mit dem Thema Essen auseinandersetzen. Gezeigt werden Werke aus dem späten 20. und 21. Jahrhundert – Installationen, Fotografien, dokumentierte Performances, Videoarbeiten, Skulpturen und Malerei. Deutlich wird dabei: Nahrung kann ein zutiefst politisches Thema sein.
Essbare Installationen als zeitgenössische Memento Mori
Der erste Raum ist den Arbeiten der 1969 geborenen Sonja Alhäuser gewidmet, deren Schaffen sich immer wieder mit dem ephemeren Moment des Kulinarischen beschäftigt. Ihre großformatigen, detailreichen Zeichnungen erinnern zwar an Rezept-Illustrationen, allerdings lassen sich Alhäusers Zeichnungen aus unterschiedlichen Richtungen lesen, wodurch sie die Starrheit einer Anleitung auflöst.
Vielmehr entsteht ein dynamischer Eindruck, der die prozesshaften Aspekte des Themas (sowohl im Sinne der Zubereitung als auch der menschlichen Aufnahme und Verdauung) hervorhebt. Beweglichkeit spiegelt sich auch in einer der von ihr ausgestellten Skulpturen "Das Willkommen" (2010), einem manieristisch anmutenden männlichen Akt, der beengt in einer beleuchteten Kühlvitrine steht und sich aus dieser herauszuwinden versucht. Entkäme er dem Behältnis tatsächlich, wäre das sein Ende, er würde schmelzen und verschwinden. Denn Alhäuser hat ihn aus Margarine geschaffen.
Das Vergängliche ist ein wiederkehrendes Motiv in ihrem Werk. Immer wieder thematisiert sie es über den Bereich des Kulinarischen. Als Künstlerin hat sie auch Bankette veranstaltet, essbare Installationen, die sie als zeitgenössische Memento Mori dokumentiert hat.
Warhol und der Kunst-Burger
Der Akt des Einverleibens spielt auch in Jørgen Leths Video "Andy Warhol eating a hamburger" (1982) eine zentrale Rolle. Zu sehen ist der Künstler selbst, in Sakko, Hemd und Krawatte, wie er an einem sauberen schwarzen Tisch vor grauem Hintergrund sitzt und mit graziler Gestik einen Hamburger von Burger King auspackt und verspeist.
Der Tisch befindet sich in Warhols New Yorker Atelier The Factory, im Hintergrund sind Großstadtgeräusche zu hören. Nach dem Verzehr folgt ein 45-sekündiges Schweigen, bis Warhol in die Kamera blickt und sagt: "My name is Andy Warhol. I just finished eating a hamburger." Die Szene entstammt Leths Filmprojekt "66 Scenes from America", das aus ebenso vielen kurzen Impressionen besteht, die unterschiedliche Aspekte der US-amerikanischen Gesellschaft zeigen.
Wenn Warhol, der Popart-Künstler, sich hier das essbare Insignium der postmodernen Konsumgesellschaft einverleibt, verleiht er dem Fast-Food-Produkt selbstredend ganz andere Bedeutung, als wenn vermeintlich "normale" Kundinnen und Kunden es ihm gleichtun - so, wie es in Martin Parrs Fotografien zu sehen ist. Von diesem zeigt die Ausstellung 270 dicht gehängte Aufnahmen aus der Serie "Common Sense" (1995-1999), deren überwältigende Buntheit auf den ersten Blick an kommerzielle Bonbonläden erinnert. Bei näherem Betrachten erweisen sich die Bilder als Nahaufnahmen aus dem typischen Parr-Milieu – Massentourismus, Arbeiterklasse, Alltagskultur. Die fotografierten Menschen essen ihr Fast Food nicht am Tisch, sondern haben die Pommes auf ihren Oberschenkeln platziert. Gerade im unmittelbaren Vergleich zum Warhol-Video wird hier sehr deutlich, dass es einen Unterschied macht, wer wann wo was isst.
Fatal verlockende Fotografien und kulinarische Trompe-d´Oeils
Essen kann stigmatisieren, überhöht werden, Statussymbol sein oder als Heilsversprechen vermarktet werden. Kritik an letzterem lässt sich in Thomas Feuersteins "Manna-Maschine III" hineinlesen. Dabei handelt es sich um eine frei im Raum stehende Installation aus grün leuchtenden, blubbernden Röhren und Schläuchen, in denen Chlorella-Algen gezüchtet werden.
Seit mehreren Jahren werden diese in unterschiedlichsten Variationen als Superfood vermarktet. Aus den Exemplaren, die in Feuersteins Maschinen entstehen, produziert der Künstler, der in seinem Schaffen mit Mikrobiologen kooperiert, nicht nur Farbpigmente für seine malerischen Werke, sondern auch das alkoholhaltige Getränk "Tono Bungay". Benannt ist dieses nach einem vermeintlichen Heiltrunk, den ein Apotheker im 1909 erschienenen, gleichnamigen Roman des britischen Autors H. G. Wells vertreibt.
Künstlerinnen und Künstler wie Alhäuser, Leth oder Feuerstein bewegen sich damit auf ganz unterschiedliche Weise im Kielwasser der sogenannten "Eat Art", die in den 1960ern vom kürzlich verstorbenen Aktionskünstler Daniel Spoerri begründet wurde. Als begeisterter Koch und Gastgeber verarbeitete er die Spuren vergangener Mahlzeiten zu Kunstwerken und eröffnete 1968 ein eigenes Restaurant in Düsseldorf.
Bitte nicht essen!
Näheres zu Spoerris Speisestätte, sowie weitere, überaus interessante Beispiele von Künstler-Restaurants sind im Ausstellungskatalog nachzulesen, der an dieser Stelle besondere Hervorhebung verdient. Während der Umschlag auf den ersten Blick an ein Kochbuch aus den späten 1990er-Jahren erinnert, entpuppt sich die Publikation beim Lesen als kurzweiliges, informatives und abwechslungsreich gestaltetes Magazin. Neben den üblichen Werkinformationen und wissenschaftlichen Artikeln gibt die aufwendig gestaltete Publikation lehrreiche und unterhaltsame Einblicke in das Thema Kunst und Küche. Dazu zählen persönliche Berichte, Interviews, das 1930 verfasste Manifest der futuristischen Küche, sowie Rezepte der ausstellenden Künstlerinnen und Künstler.
Während Andy Warhols Schokoladenkuchen noch problemlos umgesetzt werden kann, findet sich auch ein Rezept, dessen Resultat auf keinen Fall verzehrt werden sollte. Es stammt von Ben Heinrich und Lukas Pürmayr, die mit einer fotografisch dokumentierten Performance in der Ausstellung vertreten sind. Im Sommer 2021 lud der Landschaftsgärtner Heinrich fünf Freunde in seinen Garten ein, den er als Feldlaboratorium bezeichnet. Dort galt es, gemeinsam ein Menü zuzubereiten, das es explizit nicht zu verspeisen galt - denn der Konsum der überaus ästhetisch angerichteten Gerichte, die bei Kerzenschein serviert wurden, hätte tödliche Folgen gehabt.
Die Zutaten bestanden vor allem aus giftigen Pflanzen, die zuvor, teils unter besonderen Schutzvorkehrungen, im Garten geerntet wurden. Im Bild von Lukas Pürmayr fotografisch festgehalten, scheint den einzelnen Gängen jegliche Giftigkeit abhandenzukommen, wodurch ein faszinierendes Spannungsfeld entsteht. Zu sehen sind fatal verlockende Fotografien, kulinarische Trompe-d´Oeils, die man auch als kritische Bemerkung zum in den Sozialen Medien allgegenwärtigen "Food-Porn" interpretieren könnte.
Künstler als Kochpioniere
Entspringt letzterer vor allem kapitalistisch-konsumorientierten Mechanismen, lenken Heinrich und Pürmayr in ihrer Performance das Augenmerk auf das gemeinschaftliche sinnliche Erleben und Erfahren. In einer Zeit, in der jederzeit exotische Früchte in deutschen Supermärkten erhältlich sind, kaum aber jemand die Namen der ihn oder sie umgebenden Pflanzen benennen kann, richten sie den Blick auf die unmittelbare Umgebung. Und erproben performativ-spielerisch die Möglichkeiten einer neuen Annäherung an die Natur.
Dass sie dies über den Weg des Essens tun, scheint nur folgerichtig, wenn man in dieser Ausstellung erfährt, wie sehr sich Kulinarik, Kunst und Kritik miteinander in Verbindung bringen lassen. Deutlich wird in dieser Ausstellung auch, dass die Gourmet-Küche der Gegenwart in Wahrheit nicht immer so avantgardistisch ist, wie es scheint. Sondern, dass, wie so oft, auch auf diesem Gebiet die Künstlerinnen und Künstler ihrer Zeit oft voraus waren. So kredenzte Daniel Spoerri bereits 1968 Termiten-Omelette in seinem Düsseldorfer Restaurant - und damit Jahrzehnte vor dem Kopenhagener Chefkoch René Redzepi. Der machte Schlagzeilen, indem er in seinem mehrfach zum weltbesten Restaurant gekürten Noma Ameisengerichte servierte.