Am 14. September 1954 wurde der New Yorker Künstler David Wojnarowicz geboren, 1992 starb er im Alter von 37 Jahren an den Folgen von Aids. Er war vor allem für seine kompromisslosen Kunstwerke, aber auch für seine Texte bekannt. Heute hängen seine Bilder im MoMA und im Whitney Museum, angefangen hat er aber als Graffiti-Sprayer in der avantgardistischen und punkigen Underground-Szene des East Village der 1980er-Jahre. Alan Barrows, der zusammen mit Dean Savard die Civilian Warfare Gallery (1982-1987) im East Village leitete - die Galerie, in der Wojnarowicz‘ Kunst zum ersten Mal ausgestellt wurde -, erinnert sich an seine Zeit mit dem Künstler und die damalige Kultur in Downtown Manhattan hatte.
Alan Barrows, gibt es eine konkrete Erinnerung oder ein Gefühl, das Sie als erstes haben, wenn Sie an David Wojnarowicz denken?
Viele der Erinnerungen, die ich an David habe, sind persönlicher Natur. Ich denke an die Reisen, die wir nach Europa unternommen haben. In Amsterdam haben wir eine Kunstgalerie besucht, die mit uns zusammenarbeiten wollte, wir waren in Bonn, und dann hatte mein Galerie-Partner Dean eine kurze Affäre mit der Inhaberin einer Galerie in Köln. Also blieb er da, während David und ich nach Berlin geflogen sind, wo David Rosa von Praunheim kennenlernte. Rosa hat uns geholfen: Er hatte eine Freundin, die Besitzerin eines Nachtclubs, die uns ihre Wohnung zu Verfügung stellte. Wir waren über Silvester da, es war sehr aufregend.
Was haben Sie gemacht?
David und ich sind durch die Stadt gezogen, gingen durch den Checkpoint Charlie nach Ostberlin. Und wir waren in einem Nachtclub in einem Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg [Anhalter Hochbunker in Kreuzberg, Anm. d. Red.]. Ich bin mir sicher, dass das damals illegal war, aber es war aufregend, wir haben die ganze Nacht durchgetanzt. David hat auch was an die Wand des Bunkers gemalt, ich glaube, dieses Wandgemälde gibt es heute noch. Berlin war eine unglaubliche Erfahrung. In New York haben wir auch viel Zeit miteinander verbracht, ob wir im Park saßen oder ein Pornokino besucht haben. David war wirklich besonders.
Kennengelernt haben Sie und David sich über Ihre Galerie, die Civilian Warfare Gallery. Wie kam es dazu, dass Sie diese eröffnet haben?
Ich habe eine Zeit lang in Philadelphia gelebt, wo ich einen jungen Künstler namens Dean Savard kennenlernte. Als Dean nach New York ging, beschlossen mein Mann Steven und ich – dieses Jahr sind wir seit 45 Jahren zusammen –, ebenfalls nach New York zu ziehen. Wir haben dann direkt gegenüber vom Strand Bookstore gewohnt, Dean ist in ein Ladenlokal im East Village auf der 11th Street zwischen den Avenues A und B gezogen. Zu der Zeit hatte gerade die Fun Gallery eröffnet, deren Inhaber, Bill Stelling, ein Freund von uns war. Auf der ersten Ausstellung von Kenny Scharf meinte Bill zu uns: Warum öffnet ihr nicht auch eine Galerie? Also haben Dean und ich das gemacht. Mit seinem Ladenlokal hatten wir ja die Location. Dean hat hinten gewohnt, und vorne war die Kunstgalerie.
Heute ist das East Village teuer, hip und gentrifiziert, in den 1980ern war es ein gefährliches Viertel…
Der Teil des East Village, in dem die Galerie war, die Avenues A, B, C und D zwischen Houston und der 14th Street, wird Alphabet City genannt. Damals, vor ihrer Gentrifizierung, war die Gegend ganz anders. Man hörte Schüsse, Leute wurden überfallen und es gab viele Drogen. Heroin war zu der Zeit sehr beliebt, die Ecke 2nd Street und Avenue A ein offener Drogenmarkt, überall lagen Spritzen herum. Ein Großteil des East Village stand leer und verfiel. Junge Künstler und andere Kulturschaffende, Musiker und so weiter, wohnten dort, weil es im Vergleich zu anderen Vierteln in New York unglaublich billig war. Sie lebten in ziemlich erbärmlichen Verhältnissen, die alten Mietshäuser waren nicht saniert und sahen ziemlich ekelerregend aus.
Erinnern Sie sich an die Anfangszeit der Galerie?
Wir hatten mit unserer Kunstgalerie nicht die Absicht, Geld zu verdienen, wir wollten einfach Kunstwerke ausstellen und kleine Partys feiern. Die erste Ausstellung nannten wir "Hit and Run"– sie dauerte nur eine einzige Nacht. Wir haben Flyer ausgedruckt und sie im East Village verklebt und ausgelegt. Und so entwickelte sich das über einen längeren Zeitraum von Gruppen- zu Einzelausstellungen. Es kamen immer mehr Menschen ins East Village. Die Leute besuchten die Eröffnungen, weil sie umsonst waren und es was zu trinken gab, sie rauchten und redeten über Kunst. Ihnen folgten schließlich die Medien.
Wie haben Sie die Künstler, die Sie in der Galerie ausgestellt haben, ausgewählt?
Das waren vor allem Künstler, die wir kannten. David Wojnarowicz lebte im East Village, und er zeigte einige seiner Werke anderen Leuten, die sagten: Warum gehst du nicht zu Civilian Warfare? Seine Kunst war sehr roh, auch wegen der Materialien, die er benutzt hat, Dinge, die er auf der Straße fand und bemalte, wie Plakate, Sperrholz oder metallene Mülleimerdeckel. Er stahl die Deckel aber nicht, sondern kaufte neue und benutzte dann die alten, verbeulten. Sobald wir seine Werke sahen, sagten wir: Ja, das ist wirklich, wirklich großartig. Er hat einfach zu uns gepasst.
David Wojnarowicz wurde dann ein wenig zum Star der East-Village-Szene gekürt.
Seine erste Ausstellung hatte David bei uns. Eine Autorin der "New York Times" kam mit ihrem Fahrrad ins East Village gefahren, ganz schön mutig, wenn man bedenkt, wie die Nachbarschaft damals war. Sie war sehr interessiert an der Geschichte der Galerie und ganz besonders an Davids Arbeit. In der Sonntagsausgabe gab es dann einen schönen Artikel von ihr über die Galerien des East Village, und ein Kunstwerk von David war das Hauptfoto dafür. Danach kamen die Sammler, Leute, die Geld hatten, um Kunstwerke zu kaufen. Die fuhren mit Limousinen und Chauffeuren ins Viertel. So fingen wir an, Bilder zu verkaufen.
Was war an der Kunstszene im East Village so anders im Vergleich zu SoHo?
Wir haben Sachen gemacht, die die traditionellen Galerien nicht gemacht haben. In SoHo zeigten sie "sichere Werke", die nicht kontrovers waren. Im East Village war es Künstlern möglich, ihre Sexualität in ihrer Kunst auszudrücken. Die Arbeiten waren direkt, und Davids Werk war genau dafür bekannt. Hinter mir an der Wand hängt ein Druck, den David auf ein Supermarktplakat gemacht hat. Es zeigt einen Mann, der masturbiert. Arbeiten wie diese wurden nicht in anderen Galerien ausgestellt. Sein wohl bekanntestes Bild heißt "Fuck you faggot fucker". Ich meine, allein der Titel war schon skandalös. Als wir das in einer Ausstellung aufgehängt haben und er mir den Titel nannte, sagte ich: David, können wir das nicht anders bezeichnen? Ich hatte Angst, dass die Sammler sich daran stören würden. Aber er meinte: Nein, das ist der Name. Der bleibt. Diesen Mai wurde das Bild im Auktionshaus Philipps für fast eine Million Dollar versteigert, und keiner stört sich mehr an dem Titel. Und ich habe das Gemälde damals an die Person verkauft [Barry Blinderman, Anm. d. Red.], die es jetzt auf der Auktion verkauft hat.
Erinnern Sie sich noch an die Summe?
Irgendwo habe ich den Beleg noch. Ich weiß, dass es weniger als 5000 Dollar war. Das war damals eine beträchtliche Summe Geld. Wer konnte schon ahnen, dass es 40 Jahre später so wertvoll sein würde?
Hat Sie dieser plötzliche Hype der sogenannten East-Village-Kunst gestört?
Nein, es war einfach sehr unerwartet. Gerade Davids Kunstwerke waren gefragt. Der bekannte Kunstkritiker Robert Pincus-Witten kam herein und sagte, er wolle eine seiner Kundinnen mitbringen, für die er eine Sammlung zusammenstellte, eine wohlhabende Frau aus Long Island. David Wojnarowicz und Dean waren so aufgeregt, dass sie beschlossen, ich sollte derjenige sein, der sie durch die Galerie führen würde. Robert Pincus-Witten lief mit ihr herum und flüsterte ihr ins Ohr. Und dann sagten sie: Okay, wir nehmen das und das und das hier. Ich rannte rüber zum Pyramid Club, wo David und Dean warteten, und rief: Wir haben so viele Arbeiten verkauft! Dadurch wurden wir in der Nachbarschaft bekannt.
Wieso haben Sie Civilian Warfare 1987 geschlossen?
Mein Geschäftspartner Dean [1958 – 1990, Anm. d. Red.] wurde furchtbar abhängig von Heroin, ein schrecklicher Drogensüchtiger. Er hat ein paarmal einen Entzug versucht, aber ohne Erfolg. Civilian Warfare bekam den Ruf, eine Drogengalerie zu sein. Ich musste meine Freundschaft und meine geschäftliche Beziehung zu Dean beenden und Insolvenz anmelden. Dann bekam mein Mann ein Jobangebot in Washington, D.C., und wir entschlossen uns, New York zu verlassen. Das war kurz bevor Aids in New York City explodiert ist.
Trotz oder gerade wegen der hohen Kriminalität, der Drogen und auch der vielen Aids-Toten, die im East Village der 1980er zu beklagen waren, ist es sehr von Interesse, es wird in unzähligen Romanen, Dokus und Zeitungsartikeln verhandelt. Was macht dieses Viertel zu jener Zeit so besonders?
Ich glaube, dass die Menschen immer auf bestimmte Zeitabschnitte zurückblicken, die 20, 30 Jahre her sind, wenn die Leute dieser Periode noch am Leben sind. Die Kunstszene in den 1980er-Jahren im East Village war wie das Paris der 1920er, als es diese Blütezeit mit neuer Musik, Kunst und Literatur gab, eine neue Art, die Welt zu betrachten. So war das auch in New York. Es war eine avantgardistische Underground-Szene. Viele der Künstler aus dem East Village wurden später auch zu bekannten Schauspielern, Musikern und so weiter. Ich erinnere mich daran, dass ich Madonna im Club Danceteria gesehen habe, und RuPaul auch.
Er hat zwar nicht den Bekanntheitsgrad von RuPaul oder Madonna, es erinnern sich aber immer noch viele an David Wojnarowicz.
Ich finde es wunderbar, dass es bis heute ein solches Interesse an David gibt. In meinen Augen ist er inspirierend, und auch seine Texte sind unheimlich gut. Wenn er heute noch leben würde, wäre er 67 Jahre alt. Was würde er tun? Was hätte er getan? Hätte er immer noch so einen Einfluss? Oder wäre er einfach in der Versenkung verschwunden?