Jahresrückblick

2019 als Fotoalbum

Was in einem Jahr so alles passiert, kann man schonmal vergessen. Ein paar Bilder bekommen wir aber nicht mehr aus dem Kopf. Die besten Fotos des Kunstjahres 2019



1. Das Wunder von Paris

Der Brand in der Kathedrale Notre-Dame in Paris ließ so gut wie niemanden kalt. Entweder man fieberte und bangte mit dem gotischen Wahrzeichen - oder man ärgerte sich über die plötzliche Großzügigkeit von Milliardären, denen das Gemeinwohl sonst recht egal zu sein scheint. Ein Bild, das in Erinnerung bleibt, ist der erste Blick in das verkohlte, aber standhafte Kirchenschiff von Notre-Dame. Das golden leuchtende Kreuz inmitten von Ruß und Asche war ein erstes Hoffnungszeichen, dass das ikonische Gebäude nicht völlig verloren war. Hätte man sich nicht dramatischer ausdenken können.


2. Das absolute Nichts

2019 ist es Wissenschaftlern zum ersten Mal gelungen, ein schwarzes Loch zu fotografieren. Das ästhetische Potenzial des Bildes (vage an einen glühenden Donut erinnernd) konnte nicht ganz mit dem Erkenntnisgewinn mithalten - aber das Foto löst auch ein uraltes künstlerisches Problem: Wie soll man das absolute Nichts abbilden, das gleichzeitig alles ist?


3. Ist Greta Thunberg eine Zeitreisende?

Mit Bildern von Klimaaktivistin Greta Thunberg ließe sich ein ganz eigener Jahresrückblick füllen. Dass die Menschheit in Zusammenhang mit der 16-Jährigen inzwischen selbst Übersinnliches für möglich hält, zeigte die Aufregung um ein 121 Jahre altes Foto. Aus den digitalen Archiven der University of Washington war ein Schwarz-Weiß-Bild von 1898 aufgetaucht, auf dem ein Mädchen mit Zöpfen beim Goldschürfen in Kanada zu sehen ist. Eine gewisse Ähnlichkeit mit einer heutigen Klimaaktivistin ist nicht zu leugnen. Aber ist Greta eine Zeitreisende? Und wenn sie sich so einfach durch Raum un Zeit bewegen kann: Warum dann das aufwenige Gesegele über den Atlantik?

 


4. Protest in der Kunstwelt

In der National Porrait Gallery in London übergossen sich Aktivisten der Gruppe "Extinction Rebellion" mit klebriger schwarzer Flüssigkeit, um gegen die Partnerschaft des Museums mit der Ölfirma BP zu protestieren. In Paris, New York und London führte Nan Goldin die Aktionen vor Kunsthäusern an, die Geld von der US-Pharmafamilie Sackler bekommen haben. Das Kunstjahr 2019 war von Aktivismus geprägt - und von Kunstinstitutionen erwartet man zunehmend ethische Integrität. Wie die aussehen kann und wo die Grenzen verlaufen, wird uns wohl auch im nächsten Jahrzehnt noch intensiv beschäftigen.


5. Sieht ganz schön alt aus

Im Frühjahr und Sommer tauchten überall in den sozialen Medien plötzlich diese Bilder auf, auf denen Menschen (berühmte und weniger berühmte) plötzlich mysteriös in Rekordzeit gealtert waren. Die "FaceApp" mit Age-Filter ließ sich sogar auf Kunstwerke anwenden und verwandelte zum Beispiel die Venus von Botticelli in eine rüstige ältere Dame. Die Idee mit den Gemälden erwies sich noch als harmloseste Anwendung der vermeintlich spaßigen App - denn bei gemalten Bildern können immerhin keine Persönlichkeitsrechte verletzt werden. Inzwischen ist bekannt, dass die Spielerei wahrscheinlich vom russischen Geheimdienst zum Datensammeln benutzt wurde. Das FBI ermittelt.


6. Waldstadion

Sind Bäume bald nur noch Schauobjekte zur allgemeinen Belustigung? Diesem Gedanken ging Klaus Littmann mit seinem Projekt "For Forest" nach, für das er gut 300 Bäume in ein Fußballstadion im österreichischen Klagenfurth zum Kunst-Wald arrangierte. Die Aktion zum Thema Waldsterben wurde ein Publikumsmagnet - nur die Fangesänge blieben aus. Inzwischen sollen alle Nadel- und Laubbäume wieder in freier Wildbahn eingepflanzt sein.


7. Banksy als Phantom in Venedig

In der Eröffnungswoche der Venedig-Biennale hat das Fachpublikum einiges zu tun. Und Kunst muss man möglicherweise auch noch anschauen. Da kann man es schonmal übersehen, wenn sich Banksy als venezianischer Kitschmaler mit Kreuzfahrtschiffmotiven auf dem Markusplatz niederlässt. Immer, wenn man denkt, dass das Street-Art-Phantom ganz in den internationalen Auktionssälen aufgegangen ist, beweist Banksy, dass er die Kunstwelt immer noch überraschen kann - und sie an ihre eigenen Scheuklappen erinnert.


8. Santa Carola

Wie sehr die europäische Flüchtlingspolitik die Gesellschaft spaltet, lässt sich eindrucksvoll an der Person von Carola Rackete illustrieren. Als die Kapitänin im Spätsommer 2019 mit Dutzenden aus Seenot geretteten Migranten an Bord ohne Erlaubnis in den Hafen der italienischen Insel Lampedusa einfuhr, war sie für die einen eine Heldin - und für andere eine Kriminelle. Der Street Artist Tvboy malte Carola Rackete als Heilige Maria mit Kind auf dem Arm auf eine Wand auf Sizilien. Und schon nach wenigen Tagen wurde das Bild mit grauer Farbe beschmiert. Symptomatisch für ein Jahr, in dem erbittert über Seenotrettung gestritten wurde. Rackete fand das Wandbild übrigens "nicht angebracht": "Es gibt auf der Welt noch so viele andere, die Positives tun, ich bin da nichts Besonderes."


9. Neue Helden braucht das Land

Auf dem New Yorker Times Square steht ein neues Reiterstandbild. Diesmal aber kein namhafter Eroberer (und Unterdrücker), sondern ein namenloser afroamerikanischer Mann, den der Künstler Kehinde Wiley geformt hat. In der Debatte um die Erweiterung des Kanons geraten immer stärker auch Monumente im öffentlichen Raum in den Fokus. Warum stehen da so viele weiße Männer herum, deren Macht auch noch in Krieg, Kolonialismus und Sklaverei begründet ist? Zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler versuchen sich an neuen Denkmälern mit diverserem Ansatz. Ein weiteres grandioses Beispiel ist Kara Walkers postkolonialer Brunnen "Fons Americanus" in der Tate Modern in London. Der hätte allerdings statt ins Museum auch unbedingt in die Stadt gehört.


10. Goethe ein #MeToo-Fall?

Wie man die deutschen Hochkultur-Verteidiger in Schnappatmung versetzt, hat im August das Künstlerkollektiv Frankfurter Hauptschule vorgeführt. In Weimar bewarfen die Mitglieder Goethes Gartenhaus mit Klopapier, um gegen das Frauenbild des Dichters zu protestieren. So zitierten sie das Gedicht "Heideröslein", in dem ihrer Interpretation nach eine Vergewaltigung verharmlost wird. #MeToo im Deutschunterricht also? Die Empörung über die Aktion ließ nicht lange auf sich warten, kurzzeitig ermittelte sogar der Staatsschutz. Die Klassikstiftung Weimar reagierte dagegen gelassen. Man freue sich, wenn sich junge Leute mit Goethe auseinandersetzten. Nur aufräumen hätte man doch mal können.


11. Der Coup des Jahres

Das undeutliche, verpixelte Tatort-Foto mit zwei dunklen Gestalten auf Schachbrettfliesen steht für den Kunst-Diebstahl des Jahres. Ende November drangen zwei Täter mit Gewalt ins Grüne Gewölbe in Dresden ein. Sie hatten ein Fenstergitter durchtrennt, das Fenster herausgestemmt, im Juwelenzimmer mit einer Axt Löcher in die Vitrine mit den prächtigsten Stücken gehackt und zugegriffen. Der Coup, der auch international Schlagzeilen machte, dauerte nur wenige Minuten. Als die Polizei eintraf, waren Diebe und Beute verschwunden. Und die Polzei hat weiterhin keine heiße Spur.


12. Frucht des Jahres

Ein Künstler, nennen wir ihn Maurizio Cattelan, klebt bei einer Kunstmesse drei Bananen mit Panzerband an die Kojenwand seiner Galerie. Jede der handelsüblichen Früchte kostete 120.000 Euro. Als wäre das noch nicht genug, um die Absurditäts- und Gier-Vorurteile gegenüber der zeitgenössischen Kunst abzurufen, aß ein selbsternannter Aktionskünstler dann auch noch eine der teuren Früchte einfach auf. Nur um danach die Auskunft zu bekommen, dass er das Kunstwerk gar nicht zerstört habe - es ginge ja nur um die Idee. Man kann Cattelans Bananen-Stunt für den schlechtesten Kalauer des Kunstjahres halten. Oder man kann es interessant finden, dass ein verderbliches Alltagsobjekt als Kunstwerk auch 100 Jahre nach dem ersten Readymade offenbar noch ein provokantes Potenzial besitzt. Bananen werden nach Cattelans Konzept-Performance und den unzähligen Parodien im Netz nie mehr dieselben sein. Das muss man als Künstler auch erstmal schaffen.