Haben Sie jemals das Bedürfnis verspürt, auf Graffiti zu reagieren und Ihre Meinung daneben zu schreiben? Graffiti ist eng mit unserem alltäglichen Leben verbunden und kann dadurch Menschen zum Nachdenken anregen und sie dazu ermutigen, sich zu beteiligen.
Vor etwa fünf Monaten tauchte der Schriftzug "Das ist nicht unser Krieg" an mehreren zentralen Orten Berlins auf: am Potsdamer Platz, an der Skalitzer Straße, am Checkpoint Charlie, am Alexanderplatz und an anderen belebten Plätzen der Metropole. Die ausgesuchten Flächen sind schwer zu erreichen. Der oder die Verfasserin oder die Gruppe, die diese Graffiti sprüht, muss sich also mit der lokalen, urbanen Dynamik und der Logistik des Sprayens auskennen (Timing, Polizeiüberwachung und so weiter). Außerdem verweisen zahlreiche Charakteristika der Schrift auf die technischen Fähigkeiten des Autors: Die Buchstaben sind groß, dick, genau und scharf, was eine gute Lesbarkeit und Sichtbarkeit auch aus großer Distanz garantiert.
Manche dieser Graffiti unterscheiden sich in ihrem Aussehen; das ist aber eher die Ausnahme. Die meisten Schriftzüge zeugen von derselben Technik, was Schriftart, Größe und Farbe angeht, und verweisen so auf eine gut geplante und wiedererkennbare Kampagne.
Interessant ist die Ähnlichkeit zur Schriftart des Slogans "FUCK JOE BIDEN", der Monate zuvor an den exakt gleichen Stellen aufgetaucht war. Der einzige Unterschied ist, dass damals Großbuchstaben benutzt wurden, während die neuen Schriftzüge in Kleinbuchstaben verfasst sind.
Wenn man die Kontexte der beiden Botschaften untersucht, ist eindeutig, dass der oder die Urheber anti-amerikanische Rhetorik benutzen, gefolgt von pazifistischen Regungen. Der Inhalt ist klar und unmittelbar und benötigt keine zusätzlichen Erklärungen. Zeit, Ort und politische Situation machen deutlich, dass die öffentliche Stimmung und die Solidarität mit der Ukraine nach der russischen Invasion beeinflusst werden soll. Da die Graffiti häufig mit einem Hashtag versehen sind, könnte der Verfasser auch beabsichtigt haben, die Diskussion von der Straße ins Internet zu verlagern.
Während die Schriftzüge gegen den amtierenden Präsidenten der USA nicht viel Interaktion hervorriefen und langsam aus dem öffentlichen Raum verschwanden, hat die Anti-Solidaritäts-Kampagne gegen die Ukraine die Wände Berlins in Kommunikations-Plattformen verwandelt. Durch kritische Neuinterpretation und Abwandlung der Original-Graffiti drücken Bürgerinnen und Bürger ihre Ablehnung der Botschaft aus, oft dadurch, dass sie Partei für die Ukraine ergreifen, durch eingefügte Wörter wie "doch", "auch", "unser" und "Solidarität". Auch das "nicht" wurde wiederholt durchgestrichen.
Es gibt auch Beispiele von "Korrekturen", die aus ganzen Sätzen bestehen. Dazu gehören das Neuschreiben des existierenden Satzes und ganz individuelle Dialoge, die neben die Ursprungs-Botschaft geschrieben werden. Kreative und humoristische Adaptionen der Graffiti gibt es auch. Zum Beispiel veränderten Arbeiter einer Baustelle die Elemente eines Schriftzuges auf einem Zaun, sodass am Ende die Botschaft "#DAS IST NICHT UNS" entstand.
Manche der Slogans verändern sich immer wieder neu. Im Gegensatz zu der gut organisierten Original-Kampagne sind die neuen Inschriften und Eingriffe offenbar spontane und affektive Reaktionen von Berliner Bürgerinnen und Bürgern. Das zeigt die inhaltliche und visuelle Vielfalt der Antworten wie auch die Verwendung von alltäglichen Materialien wie Textmarkern oder Stiften. Außerdem weist die technische Ausführung der Buchstaben auf eine fehlende Vorbereitung hin.
Inspiriert durch das Engagement, entschied auch ich mich dazu, der öffentlichen Debatte beizutreten und meine Solidarität mit der Ukraine auszudrücken. Mein Widerstandsakt fand am Alexanderplatz statt, einem der zentralen Plätze Berlin. Dieser Ort gehört durch den offenen Raum und den vielen Verkehr zu den riskantesten Graffiti-Stätten. Außerdem liegt eine Polizeistation direkt in der Nähe, Polizeiautos fahren alle 30 Sekunden vorbei.
Hier befinden sich zwei "Das ist nicht unser Krieg"-Graffiti an einem Bauzaun mit Werbebannern, die ironischerweise Botschaften wie "Die Schönheit der Chance" und "Glück ist, wenn man keine Angst hat" verbreiteten.
Um meine Empathie auszudrücken, entschied ich mich für einen Slogan in Rot: "Ukraine heute. Morgen wir". Während ich gerade den letzten Buchstaben beendete, kam plötzlich ein Polizeiauto um die Ecke, und ich fragte mich, wie die Einsatzkräfte reagieren würden. Würden sie mich als eine Bürgerin sehen, die ihr Recht auf freie Meinungsäußerung praktiziert, oder als Täterin, die Eigentum beschädigt? Zu meiner Überraschung zeigten einige Polizeibeamte Verständnis, der leitende Polzeibeamte, dessen Frau aus der Ukraine stammt, äußerte sogar besonders viel Mitgefühl.
Die Beamten waren aber offenbar verwirrt, als sie versuchten, mein Aussehen und mein soziales Profil mit der begangenen Straftat zu verbinden. Diese Verunsicherung offenbart den besonderen demokratischen Aspekt von Graffiti, der es jedem Bürger und jeder Bürgerin erlaubt, unabhängig von Status oder Rolle, ein Sprayer oder eine Sprayerin zu werden.
Außerdem zeigen die Veränderungen der ursprünglichen Graffiti, inklusive meiner eigenen, dass sie als alternatives, öffentliches Kommunikationssystem wirken können, das Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit gibt, im öffentlichen Diskurs mitzuwirken und kontroverse Meinungen frei auszudrücken. Auf diesem Wege dienen städtische Wände als sichtbare Plattform für soziale Themen, die das reflektieren, was Bürgerinnen und Bürger an der beunruhigenden Gegenwart und der unsicheren Zukunft beschäftigt.
Während ich auf meine Geldstrafe warte, lade ich Sie ein, folgende Frage zu durchdenken: Stellen Sie sich vor, dass ein ausgewachsener Krieg Ihr Heimatland verwüstet und Sie in der Stadt, in der sie leben an einer Wand mit den Worten "Das ist nicht unser Krieg" vorbeikommen. Was würden Sie tun?
Vergessen Sie nicht, Ihren Mut und ihre Ausweispapiere mitzubringen und, in Gottes Namen, lassen Sie Ihre Handschuhe nicht zu Hause liegen! Denn Sie wissen nie, wann Sie vielleicht an einer provokanten, an eine Hauswand gekritzelten, Botschaft vorbeilaufen, die Sie dazu ermuntert, sich am rebellischen Geist des öffentlichen Ausdrucks zu beteiligten.